Humanismus und Totalitarismus

In einer Konversation ist folgende Aussage gefallen:

Spätestens nach den zwei Weltkriegen hat die Menschheit erkannt, dass der Humanismus jämmerlich versagt hat.

Diese Position ist in evangelikalen Kreisen oft zu hören, deshalb will ich ihr ein wenig auf den Grund gehen.

Ich formuliere oben zitierte Position etwas allgemeiner:

Der Humanismus konnte die beiden Weltkriege (als plakatives Beispiel für das Böse in der Welt) nicht verhindern, und er sei daher auch verantwortlich für die beiden Weltkriege (und dass das Böse in der Welt nicht erfolgreich bekämpft wird)

Diese Position ist natürlich durch die Kürze der Formulierung etwas pauschalisierend, und ich will daher nicht jedes Wort darin mit Gold aufwiegen. Aber ich denke, dass hier ein typisches evangelikales Denkmuster zu finden ist:

Durch die Abkehr vom christlichen Gott (in Form des Humanismus und Atheismus) sei die Welt schlechter geworden - wie in folgendem Zitat auch zu erkennen:

Der Atheismus in Form vom Marxismus durch Stalin, Mao und Pol Pot forderte mehr Menschenleben als alle Jahrhunderte davor. 

Allgemeiner formuliert:
Humanismus/Atheismus bringt totalitäre Ideologien wie den Nationalsozialismus oder den Marxismus hervor.

Die implizite Schlussfolgerung daraus ist:
Wären die Menschen christlich, dann wären all diese schrecklichen Dinge nicht passiert.

Was sagt die Geschichtsforschung zum Totalitarismus?

Aus Sicht der Historiker tragen folgende Faktoren zum Enstehen von totalitären Bewegungen wie dem 3. Reich oder dem Stalinismus bei: (zum Teil aus https://de.wikipedia.org/wiki/Totalitarismus und https://de.wikipedia.org/wiki/Elemente_und_Urspr%C3%BCnge_totaler_Herrschaft)

  • Der Totalitarismus knüpft an geschichtliche Ursprünge an:
    Den Rassismus (insbesondere Antisemitismus) und den Imperialismus/Nationalismus.

  • Der Totalitarismus macht sich die Verunsicherung der Menschen durch Massengesellschaft und Individualisierung zu nutze, und bietet einfache Antworten auf komplexe Entwicklungen.

  • Der Totalitarismus nutzt moderne Instrumente wie Propaganda durch Massenmedien, totale staatliche Kontrolle der Wirtschaft, um die Gesellschaft gleichzuschalten.

Humanismus

Yuval Noah Harari definiert Humanismus so (Homo Deus, Kapitel 7, Die humanistische Revolution):

Der Glaube an die Menschheit, daran, dass menschliche Erfahrung die Maxime unserer Handlungen bestimmen sollte.

Der Humanismus begann schon im 15. Jahrhundert mit der Renaissance
https://de.wikipedia.org/wiki/Humanismus und hat sich über die Jahrhunderte weiterentwickelt.

Der Humanismus spaltete sich Anfang des 20. Jahrhunderts in 3 Richtungen auf:

  1. Der liberale Humanismus, der die Freiheit des Individuums betont
  2. Der sozialistische Humanismus, der das Wohlergehen der Gesellschaft über das Individuum stellte.
  3. Der evolutionäre Humanismus*, der die Weiterentwicklung der Menschheit darin sah, dass Rassen und Nationen miteinander konkurrieren, und der Stärkere gewinnt.

Der Nationalsozialismus entstand aus der unheilvollen Verbindung des evolutionären Humanismus mit Rassentheorien und Ultranationalismus.

Der Stalinismus entstand aus der ebenso unheilvollen Verbindung des sozialistischen Humanismus mit Klassenkampf-Theorien und Utilitarismus (dass Menschen nur Werkzeuge sind)

Der evolutionäre Humanismus hat mit Ende des 2. Weltkrieges sein Ende gefunden.

Doch auch in den letzten 7 Jahrzehnten nach Ende des 2. Weltkrieges hat die Entwicklung des Humanismus nicht aufgehört.

Der sozialistische Humanismus hat mit Ende des kalten Krieges viel an Attraktivität eingebüßt.

Harari formuliert es so:(S. 405)

Zwischen 1914 und 1989 tobte ein mörderischer Religionskrieg zwischen den 3 Splittergruppen ... Zuerst schien der Kampf offen ... Doch dann brachen die autoritären Regime in Europa zusammen (3. Reich, Mussolini in Italien, Franco in Spanien, Griechenland, Portugal), in Indien brachte Indira Ghandi die Demokratie, in den 1980ern wurden die Militärdiktaturen in Südamerika ersetzt.
1989 endete der kalte Krieg.

Der liberale Humanismus lernte aus dieser Erfahrung und ist heute weniger selbstgefällig als vor einem Jahrhundert. Durch den modernen Humanismus sind die allgemeinen Menschenrechte und die unantastbare Würde aller Menschen ausformuliert worden.
(Auch der Humanismus hat Teile seiner Weltsicht aus dem Christentum übernommen, aber das führt jetzt zu weit :-)

Und die Zahlen geben dem liberalen Humanismus recht:

Im christlichen europäischen Mittelalter lag die Todesrate durch Gewalt 20 bis 40 Mal so hoch wie im heutigen Europa.
Mittelalter: 20 bis 40 Tote durch Gewalt pro 100 000 Einwohner (Achtung: nicht pro Tote) und Jahr
heutiges Europa: 1 Toter durch Gewalt pro 100 000 Einwohner

Nie war die Welt friedlicher als nach dem 2. Weltkrieg, und dem Fall der Mauer 45 Jahre später.

Im Jahr 2002 starben weltweit ca. 57 Millionen Menschen. Davon ca. 0,7 Mio (1,2 %) durch Krieg und Kriminalität, ca 0,8 Mio. (1,4%) durch Selbstmord, und ca. 1,25 Mio (2,2%) durch (Verkehrs-)Unfälle.

Allerdings besteht die Grundfrage des sozialistischen Humanismus fort: Wie balanciert man die Interessen der Gemeinschaft und die Interessen des Individuums möglichst gut aus?

Auf diese Frage haben z.B. die skandinavischen Länder mit mit ihrer Sozialdemokratie eine andere Antwort gefunden als die USA mit ihrer Betonung auf individueller kapitalistischer Leistung ("vom Tellerwäscher zum Millionär")

War der Humanismus "schuld" an den Weltkriegen und am Totalitarismus? Die humanistischen Richtungen 2 und 3 haben sicher ihre Rolle gespielt. Doch die Geschichte ist komplex, und der Nationalsozialismus wurde von verschiedenen gesellschaftlichen Kräften nach oben befördert, wie oben stichpunktartig erwähnt. Leider haben hier auch die christlichen Kirchen ihren Anteil. Die Bekennende Kirche war im 3. Reich immer eine Minderheit unter den Christen.

Wären die Weltkriege und totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts nicht passiert, wenn Europa christlich geblieben wäre?

Schwer zu sagen ... Geschichte lässt sich leider nicht wiederholen.

Die Geschichte des christlichen Europas vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert spricht nicht unbedingt dafür, denn damals ging es auch nicht friedlicher zu. Ich verzichte darauf, hier die Kriege der Kreuzritter, sämtliche Konfessionskriege und die Kriege der europäischen Monarchien aufzuzählen.

Doch auch das Christentum blieb vom Strom der Geschichte nicht unberührt und hat sich in den letzten Jahrhunderten stark weiterentwickelt - Reformation, Pfingstbewegungen, liberale Theologie, Befreiungstheologie, Evangelikalismus.

Der weiße Evangelikalismus in den USA geht im Moment eine unheilvolle Verbindung mit Rassismus und Nationalismus ein - hoffen wir, dass die Fehler der Geschichte hier nicht wiederholt werden.**

Die Korruption in säkularen Staaten ist statistisch gesehen geringer als die Korruption in christlich dominierten Staaten.
Siehe hier: https://erkenntnisgewinne.blogspot.com/2020/01/buch-der-mitte.html#6

Im Licht der Geschichte des letzten Jahrhunderts würde ich daher formulieren, dass der Humanismus in seiner liberalen, demokratischen Form sich aus der Sackgasse herausgearbeitet hat.

Der Übergang in Europa vom römischen Polytheismus zum Christentum hat über 400 Jahre gedauert. Seit der Aufklärung ab 1650 befinden wir uns wieder in einer Übergangsphase.

Atheismus = Werteverfall?

Was ist von der These zu halten, dass Atheismus zu einem allgemeinen Werteverfall beiträgt, und dadurch für Unrechtsregime verantwortlich ist?

Der evangelikale Theologe McGrath schreibt: "Im 20. Jahrhundert finden wir eines der größten und traurigsten Paradoxe in der Geschichte der Menschheit: dass die größte Intoleranz und Gewalt dieses Jahrhunderts von denen praktiziert wurden, die glaubten, dass die Religion zu Intoleranz und Gewalt führt."

Der totalitäre Kommunismus, von dem McGrath vermutlich redet, hat tatsächlich mehr Ähnlichkeit mit einer Religion als mit einer Nicht-Religion - der Absolutheitsanspruch, das Erlösungsversprechen, die Erlöser- und Heilsfiguren, die Aufforderung, sich für die eigene Ideologie aufzuopfern.

Insofern hat McGrath recht mit seiner Beobachtung.

Ja, es stimmt, dass die stalinistischen Kommunisten sich als Atheisten bezeichneten.
Aber der Atheismus an sich ist keine Ideologie, er definiert sich ja gerade nicht durch ein einheitliches Weltbild. Das einzige, was alle Atheisten gemeinsam haben, ist die Ansicht, dass es keine Götter gibt.

Der Atheismus hat keine absolute, ewig gültige Moral anzubieten.
Das heißt aber überhaupt nicht, dass Atheisten per se unmoralischer wären als Christen. Atheisten haben nicht göttliche Offenbarungen als Quelle für ihre Moral, sondern die Philosophie, die Psychologie, und die Soziologie.
Wenn man denn überhaupt eine "atheistische" Moral in der ganzen Bandbreite der unterschiedlichen philosophischen Ansichten formulieren kann, dann basiert diese im weitesten Sinne auf einer rationalen Weltsicht und einem evidenzbasierten Menschenbild.

Mehr dazu (auch zu Atheismus und Moral): https://de.wikipedia.org/wiki/Atheismus

Die kommunistische und nationalsozialistischen Moral basiert im Gegensatz dazu auf einer Ideologie.

Man kann also keinesfalls sagen, dass der stalinistische Kommunismus oder der Nationalsozialismus direkt aus dem Atheismus entstanden ist.
Im Gegenteil - der stalinistische Kommunismus verrät geradezu die Vorstellung, dass jeder Mensch eine unantastbare Würde hat, indem er die kommunistische Parteiführung in einen gottähnlichen Status hebt.

Hitler war Zeit seines Lebens Katholik, und sah sich auch als Sprachrohr Gottes, der den göttlichen Willen umsetzt.

Es war also nicht der "Atheismus", sondern der Totalitarismus, der die Millionen Menschenleben gefordert hat, obwohl natürlich viele kommunistische und nationalsozialistische Ideologen Atheisten waren. (So viel Differenzierung muss sein :-)


*Der Begriff evolutionärer Humanismus
https://de.wikipedia.org/wiki/Evolution%C3%A4rer_Humanismus
wird unterschiedlich benutzt.

Harari versteht darunter einen Humanismus, der die Menschen durch Selektion und Zucht verbessern will.
Andere Philosophen verstehen darunter einen Humanismus, der anerkennt, dass sich der Mensch evolutionär entwickelt hat, und auch Gesellschaften und Kulturen sich immer weiter entwickeln.

** Stand der Dinge vor der Wahl des US-Präsidenten 2020:

2016 haben ca. 77% der Evangelikalen für Trump gestimmt.
In den 4 Jahren von Trumps Präsidentschaft hat sich gezeigt, was Trumps Politik und Charakter bewirkt.
Umfragen 2020 zeigen, dass die Zustimmung der Evangelikalen zu Trump auf ca. 82% gestiegen ist.

https://www.pewresearch.org/fact-tank/2020/07/01/white-evangelical-approval-of-trump-slips-but-eight-in-ten-say-they-would-vote-for-him/

Dieses Stimmungsbild interpretiere ich so, dass für weiße Evangelikale in den USA die Moral offensichtlich sekundär ist, wenn sie dafür gesellschaftlichen Einfluss gewinnen können.

Kommentare

  1. Hier eine (fiktive) Diskussion zwischen einem Christen und einem Atheisten, wo die Argumente, welche Weltanschauung für was verantwortlich gemacht werden kann, gut zusammengefasst werden:
    http://www.schmidt-salomon.de/atheismus.htm

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  2. Antworten
    1. uups, ist leider schon hinter der paywall verschwunden. Ich muss mal schauen, ob ich Zeit für eine Zusammenfassung habe.

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  3. Aus dem obigen Artikel -

    Ezra Klein: Amerika durchlebt gerade eine historische Phase des demografischen Wandels. Demografen gehen davon aus, dass wir bald eine Nation sein werden, in der Weiße nicht mehr die Mehrheit stellen. Das ist ein echter Einschnitt, das gab es noch nie seit der Gründung der Vereinigten Staaten. Zudem – und dieser Punkt ist wichtiger, als viele Leute denken – wird es in den nächsten 25 Jahren weniger Protestanten geben als Menschen, die sich keiner Religion zugehörig fühlen. Das hat eine enorm destabilisierende Wirkung für konservative Christen. Hinzu kommt die Einwanderung. Sie ist zwar momentan nicht auf einem Rekordhoch, der Trend ist jedoch eindeutig: In den 1970er-Jahren betrug der Anteil der Amerikaner, die nicht im Land geboren wurden, vier Prozent. Heute sind es 14 oder 15 Prozent. Das Land verändert sich also tiefgreifend. Aber noch wichtiger als die reale Veränderung ist, wie die Menschen diese Entwicklung wahrnehmen.

    ZEIT: Inwiefern?
    Klein: Alte, weiße, christliche Amerikaner haben das Gefühl, ihr Land, so wie sie es kennen, zu verlieren und die damit verbundene Macht und Vertrautheit. Das ist ein explosives Gefühl, eines, das die Menschen mobilisiert. Trump bedient ganz explizit dieses Gefühl. Make America great again: Wir waren mal groß, wir müssen wieder dahin zurück. Obamas Ansatz war genau das Gegenteil – hope and change: Wir verändern uns, aber das gibt Anlass nicht zur Sorge, sondern zu Hoffnung. Alle Entwicklungen in der amerikanischen Politik müssen in diesem Kontext verstanden werden.

    ZEIT: Sie sagen, der große amerikanische Konflikt der Gegenwart entzünde sich an der Angst der weißen Bevölkerung vor dem Machtverlust. Und darin liegt auch der Hauptgrund für die Unterstützung Trumps, weil er den weißen Status quo mit allen Mitteln verteidigen will?

    Klein: Ja. Zahlreiche politikwissenschaftliche und psychologische Studien zeigen, dass Menschen, die sich einer demografischen "Bedrohung" ausgesetzt sehen, darauf politisch reagieren. Wer das Gefühl hat, auf der falschen Seite dieses Wandels zu stehen, wird konservativer. Wir haben in den USA also die Situation, dass einerseits ein neues demografisches Bündnis wächst, das bunter und diverser ist als jemals zuvor, die Obama-Koalition, wenn Sie so wollen. Und auf der anderen Seite haben wir ein zahlenmäßig schrumpfendes weißes Bündnis, das immer verzweifelter und wütender wird. Das ist das Trump-Lager.

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