Corona und Wissenschaft

Dieses Essay fand ich lesenswert:

Überall Experten, überall Kritik
Vertrauen in die Wissenschaft ist eine der Säulen, auf denen die Demokratie ruht. Absolute Wissenschaftsgläubigkeit ist allerdings fatal, auch in der Corona-Krise.
Ein Essay von Maximilian Probst
18. April 2020, 20:12 Uhr 123 Kommentare
Corona-Krise: Die Wissenschaftsakademie Leopoldina in Halle (Saale)
Die Wissenschaftsakademie Leopoldina in Halle (Saale) © Hendrik Schmidt/​dpa
Überall Experten, überall Kritik – Seite 1

Eine fundamentale Frage, vor die uns die Corona-Krise stellt, lautet: Welche Art Wissen schafft die Wissenschaft? Genau darum geht es, wenn auch nur halbironisch gefragt wird, ob der Virologie Christian Drosten "auch Kanzler kann", wenn gebannt abgewartet wird, was das Expertengremium der Leopoldina der tatsächlichen Kanzlerin rät und selbst dann noch, wenn es ein Skandal sein soll, dass eine wissenschaftliche Studie in Heinsberg von einem Storytelling-Unternehmen unterstützt wird – als würde die reine, die heilige Wissenschaft durch Berührung mit den Kommunikationsexperten kontaminiert und entweiht.

In allen diesen Fällen – ganz abgesehen vom Spott im Internet gegen sogenannte armchair epidemologists, die nie ein Labor von innen gesehen haben, aber nach einem Wikipedia-Artikel oder einer journalistischen Analyse glauben, mitreden zu können – in all diesen Fällen jedenfalls traut man der Wissenschaft zu, uns sagen zu können, wo es langgeht. 

Das ist auch erst mal kein Problem. Vertrauen in die Wissenschaft ist eine der Säulen, auf denen die Demokratie ruht. Diesen Zusammenhang hat der Wissenschaftssoziologe Karl Mannheim bereits 1923 in seiner nach wie vor lesenswerten Schrift Utopie und Ideologie herausgearbeitet.

Der Gedanke von Mannheim lautet in etwa so: In modernen Gesellschaften, die durch Arbeitsteilung, Zersplitterung und Interessenskonflikte gekennzeichnet sind, bedarf es eines Minimalkonsenses, den am besten eine autonome und durch Skepsis organisierte Wissenschaft liefern kann. Andernfalls würden die Worte, die Menschen benutzen, aufhören, für alle das Gleiche zu bedeuten, was eine Politik vernünftiger Verständigung unter pluralistischen Bedingungen unmöglich mache, an deren Stelle dann reine Machtpolitik treten würde: Der Lauteste bestimmt.
Wenig autoritäre Verlockung

Die Geschichte hat Mannheim in der Folge in weiten Teilen recht gegeben. Das autoritäre politische Denken triumphiert immer dort, wo die Wissenschaft keine Autorität genießt. Sei es, weil es sie in ihrer auf Progress und Revidierbarkeit angelegten Form nicht gibt wie in den Diktaturen; sei es, weil ihre durch Skepsis erworbenen Erkenntnisse durch organisierte Leugnung in der Öffentlichkeit kaum noch angenommen werden – wie seit einiger Zeit in den USA von Donald Trump. Dass in Deutschland die autoritäre Verlockung bislang weniger stark ausgeprägt ist, erklärt sich ebenfalls durch Mannheims Wissenschaftskonzept. Nach dem blinden, irrationalistischen Taumel der NS-Zeit hat sich zumal die Bundesrepublik Deutschland als eine skeptische Nation entworfen, in der das Zusammenspiel aus autonomer Wissenschaft, kritischer Öffentlichkeit und wissensbasierter Politik weitgehend mit der Wirklichkeit zu Rande kam (zumindest bis zur Klimakrise).

Das Problem an Mannheims Vorstellung und der heutigen Wissenschaftsgläubigkeit ist allerdings, dass sie eine starke elitäre Ausrichtung hat. Die Träger des vorläufig wahren Wissens in der Wissenschaft, aber auch in Medien und Politik, das sind für Mannheim die Intellektuellen, genauer: die interesselosen, über den Dingen schwebenden Intellektuellen. Die Frage lautet dann aber: Ist es wirklich so kühl und sachlich und über den Dingen, was die Intellektuellen sagen und entscheiden? 

Natürlich nicht. Die Kritik an dieser Vorstellung formulierte als einer der Ersten Max Horkheimer. Bereits in seinem 1937 veröffentlichten Essay Der neueste Angriff auf die Metaphysik erinnerte er daran, dass auch in die strengsten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse unreflektierte gesellschaftliche Vorannahmen einfließen würden. Die wissenschaftliche Fixierung auf kleinteilige Abstraktion zulasten einer theoretischen Rekonstruktion des Ganzen etwa ist Horkheimer zufolge nicht bloß eine wissenschaftlich bedingte Methode, sondern spiegelt eben auch die bürgerlichen Produktionsbedingungen einer kapitalistischen, arbeitsteiligen Gesellschaft, mit all ihren Begrenzungen und ihrer Erfahrungsarmut. 
Ein Prozess der Objektivierung des Wissens

In Frankreich radikalisierten Philosophen wie Michel Foucault und Soziologen wie Pierre Bourdieu diesen Gedanken. Foucault kam zum Schluss, dass es kein Wissen gibt, "das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert", womit die Idee eines interesselosen, objektiven Wissens gründlich überholt scheint. Bourdieu kam aus soziologischer Sicht zu einem sehr ähnlichen Ergebnis, indem er die Gepflogenheiten des wissenschaftlichen Betriebs unter die Lupe nahm. Dabei stellte er fest, dass wissenschaftliche Theorien und Ergebnisse meist mehr über die Bedingungen intellektuellen Arbeitens, über den homo academicus und seinen Habitus verrieten als über die untersuchte Sache selbst. 

Von dieser Vorstellung führt dann eine direkte Linie zur Gendertheorie und zum Postkolonialismus unserer Tage, die immer auch nach der Position der Sprechenden fragen und daraus Rückschlüsse ziehen wollen: Ist die oder der Sprechende eine Frau oder ein Mann oder was dazwischen? Ist sie oder er weiß oder farbig? Ist sie oder er Arbeiterkind oder aus dem Bildungsbürgertum? Genau aus dieser Richtung kam dann auch die schärfste Kritik an dem Expertengremium der Leopoldina. Überwiegend weiße Männer, mit der Folge, dass ihre Expertise, ihr Wissen vom Blickwinkel doch arg begrenzt sei.

Nun gibt es zwei mögliche Lesarten dieser kurz angerissenen Geschichte der Wissenskritik. Die eine Lesart ist von Misstrauen bis Antipathie geleitet und nimmt meist folgende Form an: Mit Horkheimer, Foucault und all ihren Meisterschülerinnen und Meisterschülern hat sich die Skepsis so weit radikalisiert und verselbstständigt, dass ein geteiltes Wissen nicht mehr möglich ist. Nun hat man den Salat und kann Impfgegner und Klimawandelleugner genauso wenig überzeugen wie die postmodernen Fake-News-Schleudern von Putin bis Trump. Und Fundamentalfeministinnen schon gar nicht, die alles, was man sagt, darauf zurückführen, dass man beispielsweise Hans-Dieter heißt und 72 Jahre alt ist.  
Wer sitzt im Gremium?

Die andere Lesart ist wohlwollender und erkennt in der Wissenskritik eine Bewegung der Selbstaufklärung der Wissenschaften. Wenn alle kritischen Einwände, auch der fundamentalsten Art, berücksichtigt werden, in die Forschung einfließen und transparent gemacht werden, dann, ja dann kann man vielleicht sogar von einem Prozess der Objektivierung des Wissens reden. Dann könnte man vielleicht wirklich belastbares Wissen, das aus pluralistischer Perspektive wie ein Puzzle zusammengesetzt wird, erlangen. Mit der Einschränkung, dass auch dieses Wissen nur momenthaft ist, immer im Werden und davon bedroht, durch einen radikalen, plötzlichen Paradigmenwechsel über den Haufen geworfen zu werden. 

Pluralistisches Wissen: Das ist in etwa die Position, von der aus sich die Geschlechterforscherin Paula-Irene Villa Braslavsky gegen das Expertengremium der Leopoldina und gegen die zu billige Kritik dagegen wandte. Nur der Hinweis auf biologische Marker à la "zu viele Männer!" (was so offensichtlich war, dass es selbst der Soziologe Armin Nassehi bedauerte, der in der Runde saß) wäre "positionaler Fundamentalismus". Schließlich werde niemand durch eine biologische Position vollständig definiert, und schließlich brächten Frauen nicht automatisch neue Perspektiven in die Runde ein. Und doch, schreibt Villa: Es hätte "reichlich Kolleginnen, also 'weibliche' Wissenschaftlerinnen" gegeben, "die hier hätten berufen werden können, MIT absolut einschlägiger Expertise, Erfahrung, Standing, institutionellem Gewicht. Wieso sind die nicht (auch) dabei?" 

Diese Frage muss sich die Leopoldina in der Tat gefallen lassen und mit der Frage den nagenden Zweifel, ob nicht das Wissen dieser Experten tatsächlich weiter gefasst und damit belastbarer hätte sein können. Vor allem, weil nun auch der Eindruck entstanden ist, dieses Wissen habe sich gleich in die Politik übersetzt. Die Beschlüsse von Bund und Ländern kündigten am Mittwoch in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens Lockerungen an. Ausgenommen waren die Kitas, wie überhaupt das Schicksal von Kindern im Lockdown bislang wenig Beachtung findet in der Wissenschaft und Politik. Weil die weiblichen Wissenschaftlerinnen mit einschlägiger Expertise nicht im Gremium saßen? 
Der Verstand ist unabdingbar

Gute Wissenschaftler wissen natürlich um ihre eigene Beschränktheit. Auch Christian Drosten hat immer wieder darauf hingewiesen, dass alles, was er sagt, vorläufig ist und dass er nur für seinen Bereich, die Virologie, sprechen kann, andere wissenschaftliche Perspektiven also dringend hinzugezogen werden müssten. Daraus folgt aber nun das nächste Problem. Denn etwas wissen heißt noch nicht: diesem Wissen Geltung zu verschaffen und es anwenden zu können. Und genau an diesem kritischen Punkt, am Punkt der Kontrolle, ob das Wissen wirklich zählt und in Handlung übersetzt wird, kommt auch die Politik und die mediale Öffentlichkeit ins Spiel. Sehr konkret im Vergleich zum bisherigen Theorie-Exkurs lässt sich das am Beispiel der Maskenfrage zeigen. 

Hier hatten die Virologen vom Robert Koch-Institut, Christian Drosten, aber auch die WHO am Anfang der Corona-Krise eine erstaunlich klare Position bezogen: Masken ja, aber bitte nur für Gesundheitspersonal oder für Menschen, die bereits Symptome einer Corona-Erkrankung zeigten. Wieder und wieder wiesen die Virologen darauf hin, dass es keine wissenschaftliche Evidenz gebe, dass Normalbürger Masken tragen sollten. Die Virologen verbanden das sogar mit der Warnung, Masken könnten schädlich sein, weil sie den Trägern ein falsches Gefühl von Sicherheit geben würden. Diese Linie dominierte als vorläufiger Konsens die Wissenschaft und wurde von der Politik und der medialen Öffentlichkeit weitgehend unhinterfragt übernommen – bis sich Anfang April eine neue Linie durchzusetzen begann: Masken für alle, notfalls auch selbst genähte Modelle! Sie zu tragen, hat die Politik jetzt zaghaft empfohlen. 

Das Problem an dem Umschwung ist, wie spät er kam. Bereits im Januar deutete sich an, dass es auch asymptomatische Übertragungen des Coronavirus geben könnte. Damit war der Punkt, nur wer Symptome habe, solle Masken tragen, wissenschaftlich stark angekratzt. Auch der Punkt, es sei wissenschaftlich nicht erwiesen, dass Masken helfen würden, hatte von Anfang an Schwächen. Eine Metaanalyse des Wissenschaftsnetzwerks Cochrane kam 2011 zum Ergebnis, dass sechs von sieben Studien belegt hätten, wie wichtig Masken 2003 bei der Eindämmung des Sars-Erregers in Hongkong gewesen seien, der mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 genetisch nah verwandt ist.
Bitte kein verfrühter Konsens

Es mag sein, dass die Virologen von ehrenwerten Motiven geleitet wurden, als sie von einem allgemeinen Maskentragen abrieten. Die Masken, ohnehin schon knapp im Bestand, sollten dorthin gelangen, wo sie am dringlichsten gebraucht wurden, ins Gesundheitssystem. Allerdings war auch dieses Argument zweifelhaft, wie die Soziologin und Desinformationsexpertin Zeynep Tüfekçi Mitte März in einem einflussreichen Leitartikel der New York Times klarstellte. Sagt man den Leuten von oben herab: Ihr braucht keine Masken, euch helfen sie nicht, sie helfen nur den Experten und im Ernstfall – führe das erst recht dazu, dass sich alle darum reißen würden. Besser wäre gewesen: transparent kommunizieren, dass Masken sinnvoll für alle sind, Ärzte sie aber am dringendsten brauchen, rasch die Produktion ankurbeln und allen anderen selbst genähte Modelle empfehlen. Das stärkste Argument für das Tragen von Masken war aber die Erfahrung der ostasiatischen Länder. 

Das Beispiel der Masken ist deshalb so aufschlussreich, weil es zeigt: Ein verfrühter Konsens – Masken nicht für Normalbürger – kann Wissenschaft, Politik und Medien wochenlang lähmen, auch wenn diese Trias abstrakt weiß und beteuert, wie wichtig Pluralität, Skepsis und Kontroverse sind. Oft muss der Anstoß zu dieser Kontroverse, die dann in einen neuen Konsens münden kann, von außen kommen. Im Fall der Maskenfrage kam sie von einer fachfremden Wissenschaftlerin wie Zeynep Tüfekçi. Doch woher wusste sie früher als fast alle bedeutenden Virologen, wie wichtig Masken nach derzeitigem Wissenstand sind?

Womöglich aus einer speziellen Erfahrung heraus: Sie hat in Hongkong gelehrt und dort die Demokratiebewegung in den letzten Jahren immer wieder mit viel Sympathie begleitet. Aus dieser Perspektive der Nähe ist es sicherlich leichter sich einen Reim darauf zu machen und dann auch wissenschaftlich zu durchdringen, warum die Menschen in Hongkong in der Corona-Epidemie Masken zu tragen begannen – und zwar nicht auf Weisung von oben, von der kommunistischen Führung, sondern aus der Erfahrung mit der Sars-Epidemie heraus. Das Ergebnis: Als eine der dichtesten Städte der Welt hat Hongkong bei 7,5 Millionen Einwohnern bislang vier Tote zu beklagen.

Aber eigentlich hätte mit Blick nach Ostasien und angesichts der Sachlage auch eine Portion Verstand gereicht, um den über Wochen andauernden Konsens von Virologie, Wissenschaftsjournalismus und offizieller Politik mit guten Gründen anzuzweifeln und zu hinterfragen. Genau daran haben sich viele Laien in der Medizin, in den Medien und in der Politik auch gehalten und damit geholfen, den Konsens aufzubrechen. 

Welche Art Wissen schafft also die Wissenschaft? Auf diese anfängliche Frage lässt sich nun eine knappe Antwort geben: Die Wissenschaft schafft ein Expertenwissen, das unabdingbar ist in unserer Demokratie, aber nicht für sich stehen kann. Es braucht als Korrektiv unabdingbar plurale Wissenschaftspositionen. Es braucht als Korrektiv unabdingbar einen kritischen Wissenschaftsjournalismus. Und es braucht als Korrektiv unabdingbar den Verstand von Laien. Wenn sich alle diese Instanzen ergänzen, dann kann übrigens auch die Politik nicht mehr viel falsch machen. Kanzler kann dann im Grunde jeder.

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