Corona und Wissenschaft Teil 2

Noch ein Beitrag zum Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft:



Corona-Krise: Wem können wir jetzt noch vertrauen?
Immer wieder heißt es in diesen Tagen: Forscher seien sich uneins und änderten ständig ihre Meinung. Das stimmt nicht, und es zu behaupten, ist gefährlich.
Eine Analyse von Florian Schumann und Jakob Simmank
28. April 2020, 20:06 Uhr
Corona-Krise: Forscher liefern ständig neue Erkenntnisse zum Coronavirus. Manche widersprechen sich, müssen aktuelleren weichen. Das ist kein Makel, so funktioniert Wissenschaft.
Forscher liefern ständig neue Erkenntnisse zum Coronavirus. Manche widersprechen sich, müssen aktuelleren weichen. Das ist kein Makel, so funktioniert Wissenschaft. © Misha Friedman/​Getty Images; NEXU Science Communication/​Reuters
Wem können wir jetzt noch vertrauen? – Seite 1

Fast täglich beobachten wir gerade, wie Politiker oder auch Journalistinnen beginnen, an einer der wichtigsten Säulen in unserer Antwort auf die Pandemie zu kratzen: der Wissenschaft. Entweder wissentlich oder unbedarft. Wer etwa am Sonntag Anne Will geschaut hat, wurde Zeuge eines aufgewühlten Armin Laschet. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident hielt der Wissenschaft vor, sie wisse selbst nicht so genau, was sie wolle. Sie mache keine klaren Ansagen. Heute sage sie das eine, morgen das andere. Das sei, so klang es zwischen den Zeilen, einigermaßen unerträglich. Woran mache man denn nun den Fortschritt gegen das neue Coronavirus und Lockdown-Lockerungen fest? Erst sei es laut Laschet um die Verdopplungszeit der Fallzahlen gegangen, dann um die Reproduktionszahl R und schließlich um die Zahl der Neuansteckungen. Auch bei den Schulschließungen kam es manchem so vor, als hätten die Virologen ihre Meinung andauernd geändert. Und erst am heutigen Dienstag titelte die BILD-Zeitung: "Drei Experten, drei Meinungen". Aber stimmt das? Eiern Wissenschaftler und Forscherinnen momentan wirklich so herum?
So uneins sind sich Forscher gar nicht

Das Motiv, Forscher seien sich uneins, nehmen manche Medien derzeit dankend auf. Jeder Aufreger verspricht eben auch Aufmerksamkeit. Von einem Virologen-Streit ist da die Rede, gar vom Corona-Clinch. Dabei ist es höchst gefährlich, Forscherinnen und Forscher per se als zerstritten hinzustellen. Wer das tut, versteht wenig von Wissenschaft oder nimmt billigend in Kauf, Bürgerinnen und Bürger zu verunsichern. Denn bei vielen dürfte ankommen: Wenn Forscher es gar nicht so genau wissen, ist es ja auch egal, wie ich mich verhalte. Das ist eine fatale Nachricht, gerade weil es bei der Bekämpfung der Pandemie auf jeden Einzelnen ankommt.
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Nehmen wir das von Laschet angesprochene Beispiel. Es stimmt zwar, dass in der öffentlichen Debatte zuerst die Verdopplungszeit eine große Rolle spielte. Und dass es jetzt vor allem um die Reproduktionszahl R geht sowie um die täglichen Neuansteckungen. Da mag es manchem so erscheinen, dass die Wissenschaft selbst nicht weiß, was nun eigentlich das Ziel ist. Aber so ist es nicht, denn in verschiedenen Phasen eines Ausbruchs sind nun einmal verschiedene Parameter und deren Kombination sinnvoll, um den Verlauf der Epidemie zu beurteilen.

Womöglich wird dies nicht gut genug kommuniziert. Diese Zusammenhänge jedoch als Uneinigkeit der Forschung zu interpretieren, ist fahrlässig – und schlicht falsch. Es ist nämlich so, dass sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit Ausbruchsszenarien beschäftigen, weitgehend einig sind: Aus epidemiologischer Sicht wäre es wünschenswert, die Reproduktionszahl und die Anzahl neuer Infektionen so weit wie möglich zu senken. Gelingt es, dass sich täglich nur noch wenige Menschen mit Sars-CoV-2 anstecken, ließen sich neue Infektionsketten besser verfolgen und Infizierte isolieren. Denn steigt die Zahl derer, die ein Infizierter ansteckt, wieder über eins, dann werden wieder mehr Menschen krank – es droht eine zweite Welle. Wie schnell sie käme und mit welcher Wucht, da unterscheiden sich die verschiedenen Modelle voneinander (zu Unsicherheiten gleich mehr), aber im Prinzip sind sich viele Wissenschaftler in diesem Punkt einig. Gleiches gilt in wichtigen grundlegenden Fragen rund um das Virus, etwa, dass Ältere und Vorerkrankte schwerer an Covid-19 erkranken und eher sterben, oder dass Covid-19 wesentlich gefährlicher als eine Grippe ist.
Für gute Antworten muss man die Richtigen fragen

In der Wissenschaft gibt es verschiedene Disziplinen, momentan steht eine Handvoll davon besonders im Vordergrund: Neben der Virologie sind das vor allem die Epidemiologie, die Infektiologie, die Immunologie und die Krankenhaushygiene. Obwohl sich alle Fachleute dieser Bereiche mit Aspekten der Epidemie beschäftigen, können sie nicht jede Frage gleichermaßen kompetent beantworten. Will man etwa wissen, wie der Ausbruch sich in den nächsten Monaten entwickeln könnte, ergibt es nicht viel Sinn, einen Virologen zu fragen, der sich bei seiner Forschung vornehmlich darauf konzentriert, wie Coronaviren vom Tier auf den Menschen überspringen.

Um eine valide Einschätzung des Verlaufs zu bekommen, fragt man besser Forscherinnen und Forscher, die sich mit dem Modellieren von Krankheitsausbrüchen beschäftigen und verschiedene Szenarien am Computer durchrechnen können. Und das sind nicht selten Mathematiker oder Physiker, die mit Annahmen arbeiten, die die Medizin oder die Biowissenschaften geliefert haben. Außerdem empfiehlt es sich, Wissenschaftler zu befragen, die auch aktiv forschen und somit gut im Stoff stehen. Wer schon seit Jahren nicht mehr zu einem Thema publiziert hat, ist tendenziell kein guter Ansprechpartner – auch wenn er in Talkshows noch so überzeugend spricht. Nicht jeder, der etwas zu Corona sagen will, ist gleichermaßen Experte.
Unsicherheit ist das Kerngeschäft der Wissenschaft

Die Verantwortung liegt sowohl bei Journalistinnen und Journalisten als auch den Fachleuten selbst. Einerseits müssen Medien ihre Ansprechpartner klug auswählen. Gezielt nach Personen zu fahnden, die kontroverse Meinungen vertreten, bringt vielleicht ein schönes Zitat und eine gute Quote, führt aber nicht selten zum falschen Experten. Hinzu kommt, dass manche Wissenschaftler bisher eher im Verborgenen geforscht haben und nun zum ersten Mal in der Öffentlichkeit stehen. Logischerweise stellen sich manche dabei geschickter an als andere und bringen ihre Erkenntnisse besser rüber.
Florian Schumann
Florian Schumann

Redakteur im Ressort Wissen/Digital von ZEIT ONLINE
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Andererseits müssen Forscherinnen und Forscher auch klarmachen, wenn eine Frage über ihre Expertise hinausgeht. Viele Wissenschaftler praktizieren das gerade, unter anderem Christian Drosten. Der Virologe forscht seit Jahren an Coronaviren und kann grundsätzliche Fragen dazu mühelos beantworten. Gleichzeitig kennt er sich aber auch in angrenzenden Feldern wie der Impfstoffforschung gut aus. Trotzdem macht Drosten immer wieder transparent, dass er bei diesem und jenem Thema eben kein Fachmann sei.

Die Öffentlichkeit zu informieren und auch medial sichtbar zu sein, wenn man sich gut auskennt – dazu sind Wissenschaftler, die öffentliche Gelder beziehen, sogar ein Stück weit verpflichtet. Wenn sie es nicht tun – das ist das Gefährliche – findet sich meist jemand anderes, der weniger kompetent ist, aber gern in ein Mikro spricht.

Einen falschen Experten erkennt man übrigens nicht daran, dass er seine Einschätzung zu bestimmten Themen ändert. Ganz im Gegenteil: Wenn der Umschwung gut begründet ist, dann macht gerade das die Qualität eines Forschers aus.


Was wissen wir eigentlich über das neuartige Coronavirus? Wissen wir, wie viele sich wirklich anstecken? Wissen wir, woran genau die Menschen sterben, ob und wie lange Infizierte nach der Krankheit immun sind? Und wissen wir, wie genau sich die Schließung von Schulen auf die Infektionszahlen auswirkt? Es ist ernüchternd, aber auf all diese Fragen gibt es zum jetzigen Zeitpunkt nur eine Antwort: Nein, wir haben höchstens eine grobe Idee. Rund um Corona gibt es vor allem eines im Überfluss: Unsicherheit.

Manches ist klar, wie etwa, dass das neue Coronavirus ansteckender ist als sein engster Verwandter, das Sars-Virus, und dass die Maßnahmen, die die Bundesregierung Mitte März beschlossen hat, im Paket wirksam sind. Vieles hingegen lässt sich nicht beziffern oder allenfalls modellieren, etwa wie genau sich die Öffnung von Läden mit 800 Quadratmetern Fläche auf die Infektionszahlen auswirken wird oder ob der Sommer mit hohen Temperaturen und UV-Licht Erleichterung bringt.


Für all jene, die Entscheidungen treffen müssen, ist das eine schwierige Situation. Man kann sie vergleichen mit einer Rechenaufgabe mit viel zu vielen Unbekannten. Nur lässt sich daraus eben der Wissenschaft kein Strick drehen. Dass Forscherinnen und Forscher sagen, sie wüssten gewisse Dinge nicht oder dass neue Erkenntnisse Empfehlungen verändern, sind keine Zeichen von Schwäche. Im Gegenteil: So funktioniert Wissenschaft. Forschung lebt davon, Widersprüchliches oder scheinbar Widersprüchliches zu produzieren, Experimente zu wiederholen, Ergebnisse wieder und wieder zu prüfen und zu hinterfragen. Dass zwei Beobachtungen nicht so recht zusammenpassen, ist einem guten Wissenschaftler Antrieb, weiterzuforschen. In der Forschung werden Theorien entworfen und verworfen. Wann immer Fachleute – aus einem falschen Gefühl der Gesichtswahrung oder aus einer Weltanschauung heraus – an ihren Ideen festhalten, obwohl neue Erkenntnisse ihnen widersprechen, halten sie die Forschung auf. Unsicherheit und Zweifel sind Kerngeschäft und Antrieb der Wissenschaft.
Wir brauchen Forschung über Fachgrenzen hinweg

Manche sind vielleicht genervt von den Einschränkungen und dem Vorläufigen. Aber so ist die Wissenschaft nun mal: Sie lebt in einem Konjunktiv, bis morgen ein besserer kommt. Medien müssen ihren Lesern, Hörerinnen und Zuschauern diese Unsicherheit zumuten. Und man darf vorsichtig hoffnungsvoll sein, dass mehr und mehr Menschen das verstehen – sonst wäre der Drosten-Podcast, der, was die Komplexität des Stoffes angeht, bisweilen eine Zumutung ist, sicher nicht so beliebt.
Wir können uns keinen Wissenschaftsnihilismus leisten

Dass sich alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer Frage einig sind, ist eigentlich nie der Fall. Der eine legt Studien auf eine bestimmte Art und Weise aus, die andere ein wenig anders. Die eine gewichtet einen bestimmten Zweifel stärker, der andere weniger. Und doch schält sich in vielen Fällen so etwas wie ein Konsens heraus. Auch beim neuen Coronavirus. Natürlich widersprechen sich Wissenschaftler oder Studien in Detailfragen trotzdem.
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Die Frage ist, was die Politik und all jene daraus machen, die Entscheidungen treffen. Verfallen sie in einen Nihilismus und blenden den Standpunkt der – sich angeblich ständig widersprechenden – Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler komplett aus? Oder treffen sie Entscheidungen nach bestem Wissen und Gewissen und versuchen sich an das zu halten, was die Wissenschaft momentan weiß? Letzteres wäre wohl ihre Pflicht und das, was sich die meisten Menschen wünschen. Wer als Politiker jedoch immer wieder betont, wie uneinig sich "die Wissenschaftler" doch seien, dem darf man etwas anderes unterstellen: Er will Entscheidungen treffen, die seiner Agenda entsprechen und sich dafür von den wissenschaftlichen "Fußfesseln" befreien.

Übrigens sollten derzeit keineswegs nur Epidemiologinnen und Virologen gehört werden, die sich mit den direkten Folgen der Corona-Pandemie beschäftigen. Auch das verzerrt den Blick auf die Wirklichkeit. Genauso muss es natürlich um die Wirtschaft gehen, denn eine Rezession hat massiven Einfluss auf unser aller Wohlergehen. Sie kann die soziale Ungleichheit verschärfen, was sich wiederum auf die Gesundheit von Menschen auswirkt. Noch fehlen – anders als bei der Epidemiologie – umfassende Modelle dazu, wie genau sich verschiedene Lockerungsszenarien auf die Wirtschaft auswirken könnten. Doch auch daran wird mittlerweile offenbar über Fachgrenzen hinweg gearbeitet.

Natürlich muss es auch darum gehen, wie sich die Corona-Krise auf die Gesundheit von nicht Corona-Infizierten auswirkt. Nicht nur psychologisch: So berichten viele Kliniken davon, dass sie deutlich weniger Herzinfarktpatienten haben als üblich. Gut möglich, dass manche Menschen aus Angst, sich im Krankenhaus anzustecken, auch bei Beschwerden zu Hause bleiben – und damit ohne Therapie. Und vielerorts sind Vorsorgeuntersuchungen wie etwa Darmspiegelungen zur Darmkrebsfrüherkennung abgesagt, was gravierende langfristige Folgen haben könnte.
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Es ist im Moment vielleicht wichtiger denn je, Widersprüche wahrzunehmen, verschiedene Güter abzuwägen: Infektionsschutz gegen das Recht auf Bildung etwa. Deshalb ist es jetzt so wichtig, dass viel mehr Forscherinnen und Forscher verschiedener Disziplinen ihre Ergebnisse zur öffentlichen Diskussion stellen. Neben Politikern, Unternehmerinnen und Virologen sollten auch Wirtschafts-, Sozial- und Erziehungswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen die Talkshows bevölkern und sich kritischen Fragen von Journalisten stellen. Damit auf dem Weg zu einer Entscheidung möglichst viele Aspekte berücksichtigt werden können.

Woran wir uns aber gewöhnen müssen, ist, dass manche politischen Entscheidungen auch weiterhin auf wackeligen Füßen stehen werden. Weil sich die Erkenntnisse, auf die sie sich gründen, ändern können. Das heißt nicht, dass sie wertlos sind. Sie sind das Beste, was wir haben.

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