Wie geht man mit Widersprüchen in der Bibel um?

Ich bin auf einen Artikel des Evangelischen Theologen Guido Baltes zu Widersprüchen in der Bibel aufmerksam gemacht worden:

https://www.jesus.de/gibt-es-widersprueche-in-der-bibel-teil-1/
https://www.jesus.de/widersprueche-in-der-bibel-teil-2/


Ich schätze Guido Baltes als besonnenen Theologen, und er bringt es meines Erachtens auf den Punkt:

Herausfordernder aber sind diejenigen Widersprüche, die sich nicht so leicht aufklären lassen.
Und die gibt es auch.
Sie ... zwingen uns dazu, über unser Verhältnis zur Bibel und unseren Umgang mit solchen Widersprüchen nachzudenken. ...
Es geht um unser Bild von der Bibel: ... dass die Bibel ein in sich geschlossenes System ist, bei dem die Wahrheit jeder einzelnen Aussage an der Wahrheit jeder anderen Aussage hängt? ...

Ich persönlich teile diese Sicht der Bibel nicht.
Sie ist mir zu wackelig, zu brüchig, für ein Buch, das sich nun schon seit Jahrtausenden durch alle Stürme des Lebens und der Geschichte bewährt hat als ein fester Grund des Glaubens für so viele Menschen. ...
Als Christen – egal ob „liberal“ oder „fromm“ – glauben wir, dass die Schrift Gottes Wort an uns ist.



In meinen Worten:
Seit Jahrtausenden finden Menschen in der Bibel Halt, weil sie glauben, dass die Bibel Gottes Wort ist.

In Teil 2 seines Artikels erklärt dann Guido Baltes einige Widersprüche.
Leider lässt er die um Jesu Geburt, Leben und Tod aus.

Doch das ist schließlich gar nicht so relevant, denn:

Widersprüche, die bis ans Herz der Bibel reichen


Alle Widersprüche der Bibel gewaltsam wegerklären zu wollen, ergibt aber für mich vor allem deshalb keinen Sinn, weil die allertiefsten Unvereinbarkeiten dennoch bestehen bleiben. Gerade die, die wirklich existenziell sind.

Etwa die Beobachtung, dass der Gott, der jeden Menschen liebt, trotzdem den Befehl gibt, ganze Städte mit Mann und Maus, Frauen und Kindern auszurotten.

Oder dass der Gott, der will, dass alle gerettet werden, es trotzdem zulässt, dass so viele verloren gehen.

Dass Jesus ein Mensch war, und zugleich Gott selbst bei den Menschen.

Die Liste könnte noch lange fortgeführt werden. Ich muss mir keine Mühe machen, Einzelheiten in Zahlen- und Datenangaben oder historische Details mühsam miteinander in Einklang zu bringen, solange diese großen Widersprüche ungeklärt bleiben.
Und das bleiben sie, vermutlich bis wir eines Tages vor Gott stehen und ihn selbst nach Antworten fragen können.

Wie gehen wir mit den Widersprüchen um?


Aus der Erkenntnis, dass die großen Widersprüche ungeklärt sind, zieht Guido Baltes folgenden Schluss:

Vielleicht hat Gott solche Widersprüche aber ja mit voller Absicht in der Bibel belassen. ... Das innerste Wesen Gottes ist eben unserem Blick und Zugriff entzogen. ...

Mir scheint daher, dass es der weisere Weg ist, mit den offenen Fragen und auch Widersprüchen der Bibel leben zu lernen als sie unter allen Umständen wegerklären zu wollen. Sich einzugestehen, dass Gott zu uns redet durch eben diese Bibel, so wie sie ist ...

Weil die Widersprüche bestehen bleiben. Weil wir keine logischen Erklärungen finden und bohrende Fragen auch mal aushalten müssen. Weil wir zugeben müssen, dass die Bibel nicht wasserdicht, aber doch vertrauenswürdig ist.


Ich denke, Guido Baltes und ich würden in folgenden Punkten übereinstimmen:
Die Bibel ist voll von Geschichten, in denen Menschen von ihren göttlichen Erfahrungen sprechen. Diese Menschen haben sehr unterschiedliche, und teilweise auch widersprüchliche Gotteserfahrungen gemacht.

Guido Baltes begnügt sich dann damit, dass wir Gott eben nicht vollständig verstehen können, und die daraus resultierenden Widersprüche akzeptieren müssen.


Ich interpretiere die Widersprüche anders.
Für mich sind diese Widersprüche ein ganz normales Resultat, wenn man Gottesvorstellungen und -Erfahrungen aus vielen verschiedenen Epochen von vielen verschiedenen Menschen in einer Sammlung von Texten (der Bibel) nebeneinanderstellt.

Um mal exemplarisch die 3 von Guido Baltes genannten herauszugreifen:

Gott als Kriegsgott

Gott, der jeden Menschen liebt, trotzdem den Befehl gibt, ganze Städte mit Mann und Maus, Frauen und Kindern auszurotten.

Der Gott des alten Testamentes war ein Stammesgott, der für sein Volk Israel da war, und auch Kriegsglück bringen sollte. Da ist es zu erwarten, dass man gewonnene Schlachten seinem Gott zuschreibt. Dass die Einwohner dann platt gemacht wurden, war damals üblich. Da waren die Israeliten nicht besser oder schlechter als alle anderen Völker.
Dass Gott jeden Menschen liebt, ist eine theologische Weiterentwicklung, auch schon im AT zu finden, aber in voller Deutlichkeit erst im NT.

Menschen gehen für ewig in der Hölle verloren

Dass der Gott, der will, dass alle gerettet werden, es trotzdem zulässt, dass so viele verlorengehen.

Dass ist nur ein Problem, wenn man davon ausgeht, dass Menschen tatsächlich verloren gehen können. Ich sehe keine Hinweise für die Existenz einer strafenden Hölle nach dem Tod. (Die Juden im AT übrigens auch nicht)
Die Vorstellung der Hölle als Ort des Grauens hat hauptsächlich eine soziologische Funktion: Es ist einfacher, Menschen zur Annahme einer bestimmten Weltsicht zu bewegen, wenn man ein gewisses Angstszenario ausmalt. Funktioniert auch super bei rechtsradikalen Parteien.
Später, als die christliche Kirche Staatsreligion wurde, konnte man damit die Menschen auch zur Kooperation /zum Gehorsam bringen.

Kann Gott gleichzeitig Mensch sein?

Dass Jesus ein Mensch war, und zugleich Gott selbst bei den Menschen.

Dass Jesus gleichzeitig als Gott gesehen wird, ist eine theologische Entwicklung.
Da habe ich ja anderswo schon drüber geschrieben, daher nur ganz kurz:
Für die Juden war es durchaus vorstellbar, das Gott einen herausragenden Menschen "adoptiert" und ihm dann sozusagen göttliche Rechte und Fähigkeiten verleiht - z.B. König David ist von Gott adoptiert worden.
Die ersten Christen waren sich dann uneinig, ob Jesus erst nach seiner Auferstehung göttlich wurde, oder bei der Geburt, oder schon vor der Geburt.

Ich teile die antike, jüdische Vorstellung nicht, dass Menschen göttlich sein können. Daher ist das für mich auch kein Problem.

Mehr zu Widersprüchen:
https://erkenntnisgewinne.blogspot.com/2020/01/hat-die-bibel-eine-einheitliche.html


Doch nicht alle christlichen Apologeten halten sich an Guido Baltes' weise Empfehlung, die Widersprüche nicht wegzuerklären.

Die unterschiedlichen Beschreibungen der ersten Begegnung mit dem Auferstandenen

In diesem Kommentar wird versucht, die unterschiedlichen Beschreibungen der ersten Begegnung mit dem auferstandenen Jesus zu vereinheitlichen:
https://www.bibelkommentare.de/index.php?page=qa&answer_id=689


Versetzen wir uns einmal in die Lage des Autors des Matthäus-Evangeliums - das war vielleicht der Jünger Matthäus selbst, oder jemand, der griechisch schreiben konnte, und Matthäus als Zeugen befragte.

Die folgende Schilderung kommt also (direkt oder indirekt) vom Jünger Matthäus:

Matthäus 28, ab V5:
Der Engel aber sagte zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Denn ich weiss, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, denn er ist auferweckt worden, wie er gesagt hat. Kommt, seht die Stelle, wo er gelegen hat.
Und macht euch eilends auf den Weg und sagt seinen Jüngern, dass er von den Toten auferweckt worden ist; und jetzt geht er euch voraus nach Galiläa, dort werdet ihr ihn sehen.

Die augenscheinliche Bedeutung dieser Passage ist, dass Jesus direkt nach seiner Auferweckung nach Galiläa geht.

Und sie gingen eilends weg vom Grab voller Furcht und mit grosser Freude und liefen, um es seinen Jüngern zu berichten.
Und siehe da: Jesus kam ihnen entgegen und sprach: Seid gegrüsst! Sie gingen auf ihn zu, umfassten seine Füsse und warfen sich vor ihm nieder. Da sagt Jesus zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Geht und sagt meinen Brüdern, dass sie nach Galiläa gehen sollen, dort werden sie mich sehen.

Die Anweisung ist offensichtlich: Wenn die Jünger Jesus sehen wollen, müssen sie nach Galiläa gehen.

16 Die elf Jünger aber gingen nach Galiläa, auf den Berg, wohin Jesus sie befohlen hatte. Und als sie ihn sahen, warfen sie sich nieder; einige aber zweifelten.


Sicherlich ist die erste Begegnung mit dem Auferstanden absolut berichtenswert!
Wenn der Verfasser bei der ersten Begegnung mit dem Auferstandenen in Jerusalem dabei war, wie könnte er es dann nicht erwähnt haben?

Und aus der obigen Bibelpassage wird klar: Der Verfasser hat aus seiner Sicht das Zustandekommen der ersten Begegnung klar beschrieben -
Zuerst die Anweisung des Engels, dann die Anweisung von Jesus selber, dann die Begegnung auf dem Berg, und sogar die Beobachtung, dass einige der Jünger zweifelten, was sie da erlebten.

Warum hat der Verfasser des Matthäus-Evangeliums Jerusalem nicht erwähnt?
Bevor wir diese Frage beantworten, ein kleiner Exkurs:

Berge als heilige Orte

Begegnungen auf dem Berg waren im alten und neuen Testament schon immer heilige Erfahrungen. Berge waren die Wohnsitze der Götter.
Ich erinnere an die Geschichten von Abraham, der Isaak auf dem Berg Gott opfern sollte, Mose, der auf dem Berg die zehn Gebote empfing, Elia auf dem Berg Kamel, die Verklärung der Jünger in Markus, Jesus selber hielt die Bergpredigt, und zog sich zum Beten in die Berge zurück.


Je nach dem, wen man als Verfasser des Evangeliums ansieht, gibt es unterschiedliche Erklärungen, warum Jerusalem nicht erwähnt wurde.

Wenn das Treffen in Jerusalem stattgefunden hat, dann muss man fast mit Sicherheit annehmen, dass Matthäus in Jerusalem dabei war, oder es zumindest mitbekommen hat. Das würden auch die Aussagen in Lukas ("die elf in Jerusalem versammelt" und Markus ("elf zu Tisch") nahelegen.
In dem Fall scheint es für Matthäus nicht klar, ob Jesus den Jüngern in Jerusalem wirklich begegnet ist, daher hat er dieses Treffen vielleicht lieber nicht erwähnt.
Es gibt ja in allen Evangelien eine Tradition des "Zweifelns": Vemutlich hatten Maria Magdalena und Petrus und vielleicht Jakobus Visionen des Auferstandenen, aber die restlichen Jünger mussten erst überzeugt werden.

Wahrscheinlicher ist für mich eine andere Erklärung:
Unterschiedliche Gründe legen nahe, dass das Matthäus-Evangelium ca. 40 Jahre nach Jesu Tod verfasst wurde.
Siehe auch
https://de.wikipedia.org/wiki/Evangelium_nach_Matth%C3%A4us#Verfasser,_Entstehungszeit_und_-ort

Das heißt, die erste Begegnung mit dem Auferstandenen wurde 40 Jahre lang mündlich tradiert, bevor sie aufgeschrieben wurde. Dieser Zeitraum ist lange genug, um die historischen Ereignisse (das Treffen der Jünger in Jerusalem) mit göttlicher Bedeutung zu füllen.
Und ein Berggipfel bildet einen passenden heiligen Rahmen für die erste Begegnung mit dem Auferstandenen.

Vielleicht sind auch beide Erklärungen gleichzeitig zutreffend:
Matthäus wollte aus oben genannten Gründen Jerusalem vielleicht nicht erwähnen, und der spätere Schreiber des Evangeliums hat diese Lücke in der Geschichte dann gefüllt.


Nochmal zurück zum Ausgangskommentar:

Stefan Drüeke und Arend Remmers liefern leider keine Erklärung, warum die Begegnung in Jerusalem im Matthäus-Evangelium nicht erwähnt wird, obwohl man annehmen muss, dass Matthäus in Jerusalem dabei war.

Man sollte aber plausibel erklären können, wieso eine so wichtige Begegnung nicht erwähnt wird.
Und bei der Interpretation des Textes sollte man davon ausgehen, dass der Verfasser des Matthäus-Evangeliums in der Lage war, sich verständlich auszudrücken, und dass er auch meint, was er schreibt.

Ich nehme die Aussage-Intention des Verfassers ernst.

Drüeke und Remmers behaupten außerdem:
Der Herr hatte ihnen (den Jüngern) nicht gesagt, dass sie sich sofort aufmachen sollten, um nach Galiläa zu reisen.

Diese Lesart von Matthäus steht der Gesamtaussage des Textes doch deutlich entgegen.
Immerhin ist im Text von "eilends", "er geht euch voraus nach Galiläa" "dort werdet ihr mich sehen" die Rede.

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