Jared Diamond: Krise - was können wir lernen?

Aus der Geschichte der Völker können wir lernen, dass die Völker nichts aus der Geschichte gelernt haben. 

 G. W. F. Hegel (1770 - 1831), deutscher Philosoph

Jared Diamond ist da völlig anderer Meinung. Sein ganzes Buch hat das Ziel, dass wir die Fehler unserer Vorfahren nicht wiederholen, und aus ihren Erfolgen zu lernen.

Der Untertitel lautet:

"Wie Nationen sich erneuern können"

Dieses Thema erinnert den einen oder anderen vielleicht an den eher trockenen Geschichtsunterricht an der Schule, deswegen fängt Diamond mit der Bewältigung persönlicher Krisen an, und zieht dann Parallelen zur Bewältigung staatlicher und globaler Krisen.

Seine Frau ist Psychologin, und aus der Psychologie kennt man einige Faktoren, wie Menschen persönliche Krisen bewältigen. Diamond fasst das in 12 Punkten zusammen (in meinen Worten).

  1. Die Krise anerkennen
  2. Verantwortung für die Krise übernehmen
  3. Die Probleme definieren
  4. Unterstützung von anderen Menschen erhalten
  5. Von Beispielen lernen
  6. Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, Identität
  7. Ehrliche Selbsteinschätzung
  8. Erfahrung aus der eigenen Lebensgeschichte
  9. Beharrlichkeit
  10. Flexibel sein
  11. Sich unverhandelbare Grundwerte bewusst machen, selektive Veränderung
  12. Beschränkung in den persönlichen Umständen bewusst machen
Ich fasse die Geschichte der 6 Länder in Teil II in dem Buch nur kurz zusammen, weil mich der Ausblick in die Zukunft am meisten interessiert.

Finnland

Finnland war seit der bolschewistischen Revolution unabhängig. In den Jahren vor dem 2. Weltkrieg mussten alle Staaten an ihe militärische Sicherheit denken, auch die Sowietunion. Die UdSSR wollte Teile von Finnland als vorgeschobenen Militärposten nutzen (und bei der Gelegenheit Finnland auch unter seine Kontrolle bringen)
Finnland hat die Forderungen der UdSSR rundheraus zurückgewiesen, d.h. die Krise erstmal nicht anerkannt.
Es kam, wie es kommen musste: die UdSSR hat Finnland überfallen, und den Krieg trotz der tapferen Gegenwehr der Finnen schließlich gewonnen - auch weil die anderen europäischen Staaten mit ihrer eigenen Verteidigung gegen Hitler beschäftigt waren.
Der Preis für die UdSSR war aber sehr hoch.

Nach dem 2. Weltkrieg war die Lektion für Finnland, dass sie sich mit der UdSSR irgendwie arrangieren müssen. Und die Lektion für die UdSSR war, das jeder Krieg mit Finnland sehr teuer sein würde.

Finnland hat seine geographische und politische Lage als Nachbar der Sowietunion nun sehr realistisch eingeschätzt, ist ihr sehr weit entgegengekommen, z.B. keine kritische Berichterstattung in Finnland über die UdSSR, Finnland musste der UdSSR Waren abkaufen. Finnische Ministerpräsidenten, die das Vertrauen Stalins gewonnen hatten, wurden immer weider im Amt bestätigt, obwohl das ziemlich undemokratisch war.
Im Gegenzug durfte Finnland auch Wirtschaftsbeziehungen mit dem Westen unterhalten, es industrialisierte sich, und wurde dadurch auch für die UdSSR wertvoll, so das Stalin gar keine Notwendigkeit sah, Finnland zu erobern.
Diese Anbiederung an die UdSSR wird von manchen verächtlich als "Finnlandisierung" bezeichnet, aber Finnland hat aus seiner schlechten Lage das Beste gemacht.

Das Buch ist von 2019, im Jahr 2022 ist Finnland der NATO beigetreten.
Offensichtlich ist Finnland zu dem Schluss gekommen, dass man mit Putin keine vertrauensvolle Beziehung mehr führen kann.
Außerdem ist mit der modernen Militärtechnik die lange Landgrenze nicht mehr so entscheidend. Und im Gegensatz zum 2. Weltkrieg gibt es jetzt die glaubhafte Beistandsverpflichtung der NATO-Freunde.

Japan

Japan war vor 1850 ein mittelalterlicher Adels- Krieger- und Bauernstaat, der den westlichen Waffen nichts entgegenzusetzen hatte. Japan musste gegen seinen Willen Handelsverträge schließen.
Japanische Wissenschaftler, Militärs und Politiker beschlossen, vom Westen so viel wie möglich zu lernen.
Sie industrialiserten sich, schätzten ihre Möglichkeiten sehr realistisch ein, und warem im 1. Weltkrieg in der Lage, deutsche Kolonien und Inseln im Pazifik zu erobern.
Danach errichteten sie erfolgreich Kolonien in China und Korea.

Im 2. Weltkrieg gab es eine neue Generation von Offizieren, die keine Erfahrung aus erster Hand mit westlichen Armeen und Kriegserfahrung hatten.
Sie überschätzten ihre Möglichkeiten grandios, und verloren den 2. Weltkrieg.

Japan heute kämpft mit Überalterung, weil durch die Benachteiligung von Frauen und Unvereinbarkeit von Beruf und Familie die Geburtenrate von 1,36 pro Frau (2019) sehr niedrig ist, und weil Einwanderung verhindert wird.
Außerdem muss Japan sehr viele Rohstoffe importieren. Das könnte noch zu einem Problem werden, denn Japan hat seine Kriegsgräuel im 2. WK in China und Korea immer noch nicht aufgearbeitet, und hat daher schlechte Beziehungen zu seinen Nachbarn.
In Japan selber ist die Forstwirtschaft nachhaltig, aber außerhalb Japans betreibt Japan Raubbau an tropischen Wäldern und den weltweiten Fischbeständen.

Chile und Indonesien habe ich nicht gelesen.

Deutschland

Diamond beginnt erst nach dem 2. Weltkrieg. Die "Krise" besteht darin, wie man mit dem Erbe des 2.WK umgeht.
Erstmal war Deutschland in seiner Handlungsfähigkeit fast total eingeschränkt. Die Alliierten waren sich unsicher, wie es mit Deutschland weitergehen sollte. Es setzte sich schließlich die Ansicht durch, dass man Westdeutschland als Bollwerk und Pufferzone gegen den Ostblock braucht. Ab 1948 war Westdeutschland Teil des Marshallplans.
Der erste Kanzler Adenauer wusse die Lage geschickt zu nutzen, und erreichte stückweise immer mehr politische Freiheiten für die BRD.
Doch damit der Staat funktionierte, brauche man erfahrene Beamten, was dazu führte, das z.B. im Innenministerium ca. 60% der Beamten, Richter, Poiziet etc. mit Nazis oder Mitläufern besetzt wurden. 
https://taz.de/Historikerbericht-ueber-NSDAP-Mitglieder/!5247691/

Das führte dazu, dass die Entnazifizierung nicht wirklich vorankam. Das änderte sich erst, als die nach 1945 Geborenen im Jahr 1968 Anfang 20 waren, sich von ihren Eltern, Universitätsdekanen etc. abgrenzten, Aufklärung forderten, Studentenrevolten veranstalteten, den immer noch vorhandenen Obirgkeitsglauben in Frage stellten etc.

Die CDU hatte auch 20 Jahre lang nicht akzeptiert, dass die jetzt polnischen Gebiete für Deutschland endgültig verloren waren.
Das änderte sich erst mit dem SPD Kanzler Willi Brandt, der in Warschau öffentlich auf die Knie fiel und um Entschuldigung bat.

Die Politik Brandts, die juristiche Verfolgung von Nazis, die Errichtung von KZ-Gedenkstätten,  die Aufarbeitung der Geschichte im Schulunterricht etc. führte dazu, dass Deutschlands Nachbarn wieder Vertrauen fassten. 
Dadurch wurde schließlich auch die EU und die Wiedervereinigung möglich.
Inwischen hat Deutschland gelernt, mit seinen zeitweise 20 Nachbarn zu Lande und zu See friedlich zusammenzuleben.

Nach dem 2. WK hat Deutschland viele der 12 Faktoren erfolgreich berücksichtigt, z.B. vorausschauendes staatliches Handeln (S. 421)

Australien


Australien sah sich bis zum 2. WK als Teil Großbrittaniens. Doch es stellte sich heraus, dass die Interessen des Mutterlandes und die Interessen Australiens doch sehr unterschiedlich waren. UK musste sich um den Zusammenbruch des Empires und seine Rolle in der EU kümmern, Australiens wirtschaftliche und sicherzeitspolitische Interessen lagen im Pazifik.
Die Identität der Australier als weiße Briten, die Einwanderung ablehnten, funktionierte nicht mehr. Heute, nach einem langen Prozess, ist Australien ein multiethnischer Einwanderungs- Staat.

Teil III: Nationale und globale Krisen heute


Japan habe ich oben schon zusammengefasst.

USA

Meine Vermutung ist, dass Jared Diamond dieses Buch zu einem großen Teil schrieb, weil er sich Sorgen um sein Heimatland macht.

Die größen aktuellen Probleme der USA sind:
  • politische Polarisierung und damit Handlungsunfähigkeit
  • Schere zwischen Arm und Reich und damit Unruhen
  • unzureichende Antwort auf den Klimawandel und damit Gefährdung des Wohlstandes
  • Die Handlungsunfähigkeit führt dazu, dass die USA nicht angemessen auf die Herausforderung durch China reagieren können.


Gründe für die Polarisierung:

Wahlkampfkosten

Die astronomisch hohen Wahlkampfkosten führen dazu, dass Politiker nur noch mit Großspendern erfolgreich sein können. Doch der Großspender sucht sich nicht den gemäßigten Politiker aus, sondern einen, der die Wünsche des Großspenders kompromisslos durchsetzt. Manche Politiker verbringen nur 20% ihrer Zeit mit Regieren, und 80% mit Spendensammeln und Wahlkampf.

Flugverkehr

Früher haben alle Bundespolitiker mit ihren Familien in Washington gewohnt. Sie kannten sich, und wurden Freunde. Heute zieht die Familie nicht mit um, und der Politiker fliegt jedes Wochendende nach Hause

Gerrymandering

in den USA werden die Wahlen nicht von einer unabhängigen Wahlkommission geleitet, sondern von der Regierungspartei. Diese hat das Recht, die Wahlkreise festzulegen. Sie tut das in einer Weise, dass die oppositionellen Wähler in wenigen Wahlkreisen eine überwältigende Mehrheit haben, während in den meisten anderen Wahlkreisen die Regierungspartei eine kleine, aber ausreichende Mehrheit bekommt.
D.h. es ist schon vorher klar, welche Partei gewinnen wird. Es geht nur noch darum, welcher parteiinterne Kandidat die Interessen der eigenen Partei am kompromisslosesten vertritt.

Mehrheitswahlsystem (nicht im Buch als eigener Punkt erwähnt)

Durch das Mehrheitswahlsystem werden regelmäßig fast die Hälfte der Wähler nicht repräsentiert. Das führt zu Wahlverdrossenheit. Um die eigenen Wähler zu mobilisieren, sind kompromisslose Kandidaten erfolgreicher.

Informationsblasen

Durch Telefon, dann Fernsehen, dann das Internet nimmt die persönliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht und die Beteiligung in Vereinen, Verbänden, Gewerkschaften etc. ab.
Das gesellschaftliche Kapital, d.h. die sozialen Beziehungen und Netzwerke, sind weniger,und auf die eigene Blase beschränkt.

Warum richten die Informationsblasen in anderen Demokratien nicht so viel Schaden an? Diamond meint, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis der Effekt auch in anderen Staaten stärker wird.

Individualität

Individualität hatte in den USA schon immer einen größeren Stellenwert als in anderen Demokratien.

Zitat aus dem Buch S.334:

Ich prophezeie, dass eine politische Partei, die in der US-Regierung oder in den Regierungen der Bundesstaaten an der Macht ist, zunehmend die Wählerregistrierung manipuliert, die Gerichtshöfe mit willfährigen Richtern besetzt, mit Hilfe dieser Gerichte die Wahlergebnisse anficht und sich dann auf die "Durchsetzung der Gesetze" beruft, indem Polizei, Nationalgarde, die Reservearmee oder die Armee politischen Widerstand unterdrücken.
Das sind die Gründe, warum ich unsere politische Polarisierung für das gefährlichste Problem halte, vor dem wir Amerikander heute stehen - es ist weitaus gefährlicher aus die Konkurrenz durch China oder Mexiko.


Niedrige Wahlbeteiligung


teilweise nur bei 20%
Weil die Wähler der Regierung nicht trauen, sie glauben nicht an die Bedeutung von Wahlen.
Nicht- Weiße und nicht-Reiche  werden an der Wählerregistrierung gehindert.


Ursachen für die Schere zwischen Arm und Reich

- niedrige Steuern, daraus folgend niedrige Ausgaben für Schulen, Unis und Soziales. Nur Reiche können sich gute Bildung leisten.
- geringste soziale Mobilität in den modernen Demokratien. Wer es vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen will, sollte besser nicht in den USA geboren werden.

Zitat s. 346:
Die Regierungsgremien der vereinigten Staaten werden auf allen Ebenen zunehmend von reichen Menschen beeinflusst, was zur Folge hat, dass reiche Menschen bei Wählerregistrierung und Steuerpolitik begünstigt werden, und dadurch wahrscheinlicher ... bei den nächsten Wahlen gewinnen.

S.358:
Die Vereinigten Staaten werden ihre Probleme erst ernst nehmen, wenn mächtige, reiche Amerikaner sich körperlich nicht mehr sicher fühlen.

Kapitel 11 - globale Krisen

Atomwaffen

4 Szenarien:
  1. geplanter Überraschungsangriff: unwahrscheinlich wegen Gegenschlagfähigkeit
  2. Fehleinschätzungen der Politiker und dadurch allmählich ansteigende Vergeltungsmaßnahmen bis zur Atombombe
  3. Fehlinterpretation von Frühwarnsystemen, z.B. durch technische Probleme: unwahrscheinlich, wenn die politische Großwetterlage ansonsten entspannt ist.
  4. Terroristen entführen eine Bombe: am wahrscheinlichsten

Klimawandel

  • Fossile Brennstoffe durch Alternative Energiequellen ersetzen

Natürliche Ressourcen

Wir können nicht alle so wie die Menschen in den Industrienationen leben - dann bräuchten wir die Ressourcen von 10 Erden.

Ungleichheit

Irgenwann wollen auch die Menschen in der 2. und 3. Welt so wie die anderen leben.

Lehren, Lösungen


multilaterale und globale Verträge

Erfolgreiche Beispiele: Ozonkrise, Waldsterben, Überfischung der Meere (Teilweise), Abkommen für Flugsicherheit durch Vogelbeobachtung zwischen Israel und Libanon, die ansonsten Erzfeinde sind (S. 394), Ausrottung der rinderpest (S. 397)


regionale Verträge, Vorbild EU

Erfolgsgeschichte 70Jahre Frieden, offenene Grenzen, einheitlicher Wirtschaftsraum, gemeinsame Währung, (s. 396)

Zitat S. 398
Unsere Probleme, vor allem die Weltbevölkerung und der weltweite Konsum, sind (seit meinem 2005 veröffentlichten Buch "Kollaps") deutlich gewachsen. Die Anerkennung unserer Probleme und die Bemühungen, Lösungen zu finden, sind seit 2005 ebenfalls auf breiter Front gewachsen. Welches Pferd das Rennen gewinnen wird, ist immer noch nicht klar. Klar ist nur, dass die Zeit bis zur Entscheidung des Rennens kürzer geworden ist, egal wie es am Ende ausgeht.


Lehren

Kann man das wahrscheinliche zukünftige Verhalten eines Landes voraussagen? Ja, wenn man seine Geschichte kennt (S. 432)

Kann man was aus der Geschichte lernen?
Ein Pessimist würde sagen "nein", denn die Staaten ignorieren das offensichtliche und machen immer wieder die selben Fehler.

Jared Diamon sagt (S. 434)
Heute gibt es mehr gebildete Leser als jemals zuvor in der Geschichte der Welt. ... Es ibt mehr demokratisch regierte Länder, was bedeutet, dass sich mehr Bürger politisch einbringen können als jemals zuvor in der Vergangenheit.
Selbst wenn es ignorante politische Führer zuhauf gibt, lesen doch einige Staatenlenker sehr viel, und heute ist es für sie leichter als frührer, aus der Vergangenheit zu lernen.
...
Unsere moderne Welt braucht bei der Suche nach Lösungen nicht im dunkeln zu tappen. Das Wissen, welche Veränderungen in der Vergangenheit funktioniert haben oder nicht, kann uns als Wegweiser dienen.

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