Gott 9.0 - Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird

Gott 9.0 - Wohin unsere Gesellschaft spirituell wachsen wird

von Marion Küstenmacher, Tilmann Haberer und Werner Tiki Küstenmacher

Ich muss zugeben, ich war ein bisschen skeptisch, als mir das Buch von einem Freund empfohlen wurde - ich wurde aber positiv überrascht.

Die wissenschaftliche Grundlage des Buches stammt vom Psychologen Clare Graves
Graves hat ein Modell entwickelt, wie sich die Psyche im Lauf der Menschheitsgeschichte und im Lauf eines persönlichen Lebens in mehreren Stufen entwickelt.
Das Konzept ist eine Weiterentwicklung der Maslowschen Bedürfnispyramide.
Populärwissenschaftlich verbreitet worden sind diese Stufen unter dem Begriff Spiral Dynamics

Ich werde diese 9 Stufen hier nicht weiter erklären, siehe den Link zu Spiral Dynamics.

Die Autoren sind zertifizierte Trainer für Spiral Dynamics Seminare, daher nicht ganz unbefangen, aber was sie zu sagen haben, ist trotzdem hörenswert.

Sie sind meines Wissens die ersten und einzigen im deutschen Sprachraum, die das Spiral Dynamics Modell auf Gottesbilder und Religionen angewendet haben.

Das Buch hat als eine Zielgruppe Menschen, die sich in ihren Kirchen und Gemeinden nicht mehr zu Hause fühlen. Insofern bin ich durchaus mitgemeint :-)

Die Autoren beschreiben typische Weltanschauungen, Verhaltensweisen und Gottesbilder der 9 Stufen. 
Bei vielen Beschreibungen hatte ich Wiedererkennungs-Momente. Beobachtungen, dich ich bisher schwer in klare Worte fassen konnte, las ich plötzlich in sehr treffenden Charakterisierungen.
Ich erkenne auch mich selber wieder in diesen 9 Stufen. Manchmal ist es gar nicht so angenehm, den Spiegel vorgehalten zu bekommen. Und doch ist der Spiegel nötig, um in Selbsterkenntnis zu wachsen.
Es hilft auch, seine Mitmenschen besser zu verstehen.

Keine dieser Stufen ist vernachlässigbar, wir Menschen und unsere Gesellschaften müssen in ihrer Entwicklung alle Stufen durchlaufen. Deswegen kann man auch nicht sagen, dass ein Mensch oder eine Gesellschaft, die auf einer der unteren Stufen steht, schlechter oder weniger wertvoll ist.
Es ist aber doch so, dass aktuelle gesellschaftliche Probleme mit dem Mindset der unteren Stufen schlecht lösbar sind. Je komplexer unsere Welt mit gegenseitigen Wechselwirkungen wird, desto mehr müssen wir uns auch psychisch weiterentwickeln, um auf diese neuen Bedingungen zu reagieren.

Die Autoren wollen mit ihrem Buch auch ein spirituelles Wachstum und eine Weiterentwicklung in den christlichen Kirchen anstoßen, was ich für ein sehr wichtiges und ehrenwertes Unterfangen halte.

Einige für mich interessante Anstöße aus dem Buch, mit eigenen Gedanken dazu:


Die aktuellen politischen Polarisationen in den westlichen Demokratien sind oft den Lagern blau, orange und grün zuzuordnen.
Doch keine dieser Lager hat Verständnis für die Weltsicht der anderen Lager.
Erst mit gelb ist ein Verständnis für blau, orange, grün möglich, und damit eine Synthese, ein neues Gesellschaftsmodell.
Die gegenwärtige Zeit ist vermutlich die erste, wo Gesellschaften so sehr im Umbruch sind, dass wir blau, orange, grün und gelb nebeneinander haben. Kein Wunder, dass es schwierig ist, Konsens zu finden :-)

Es sind auch Rückfälle möglich. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist auch die Herrschaft des Gesetzes zusammengebrochen, und das Land befindet sich seit dem Ukraine-Krieg eher in den Stufen Purpur (stammesähnliche Mafia-Strukturen, völkisches Denken) und Rot. Da war das römische Reich schon weiter.

Eine Gesellschaft wird durch gemeinsame sinnstiftende Erzählungen (Narrative) zusammengehalten, bei Harari Mythen genannt. Diese Sinnstiftung wurde in der Vergangenheit oft vom gemeinsamen Glauben geleistet.
Die Autoren betonen zurecht, dass wir auch in Zukunft eine gemeinsame gesellschaftliche Vision/Sinnstiftung brauchen.
Sie hoffen, dass die Weltreligionen diese Aufgabe wieder übernehmen können, wenn sie sich ihrer Geschichte und den Erkenntnissen von Orange stellen, und ihrer Verantwortung bewusst werden. Das ist aber ein weiter Weg, denn die meisten Glaubensgemeinschaften stecken eher noch in Blau, und die wenigen spirituellen Vordenker werden nicht unterstützt, sondern eher behindert.

Der Klimawandel ist ein Problem, welches nur mit viel gelb und sogar türkis gelöst werden kann. 

Auf welcher Stufe ich mich selber sehe?

Mein Freund hat mich als orange eingeschätzt, womit er sicher nicht ganz falsch liegt. Vielleicht nicht ganz zufällig hat die Partei "Bündnis90/die Grünen" viel von der grünen Stufe, und damit identifiziere ich mich auch. Ich sehe aber auch die Limitationen einer Lagerbildung der politischen Parteien. Wir brauchen eine Demokratie, die den einzelnen Menschen mehr Selbstwirksamkeit gibt, und wir brauchen mehr globale Vernetzung, denn wir (nicht nur wir Menschen, sondern die ganze Natur) sitzen alle im selben kleinen Boot namens blauer Planet. Wir sind alle Weltbürger. Und das ist ein gelber, wenn nicht schon ein türkiser Gedanke.

S. 275 Das Kapitel über die Prä-Trans-Verwechslung leuchtet mir sehr ein. Prärationale Erfahrungen der Stufen unterhalb orange werden verwechselt mit transrationalen Erfahrungen der Stufen oberhalb orange.

Zitat S. 293:
Glaube ist nicht statisch, sondern lebendiges Wachstum. Es lebt von immer neuen Wandlungen.  Markus 1, 15: (Die Übersetzung im Buch ist SEHR frei :-) Das Reich Gottes ist im Anbrechen. Ändert euren Sinn, wandelt euch, erneuert eurer Bewusstsein! Glaubt diese gute Nachricht!


Zum Schluss noch eine etwas kritische Bemerkung:
Das Buch ist nicht ganz frei von spekulativen Theorien, z.B. über den Ursprung der Seele, oder den Zuständen grobstofflich, feinstofflich, formlos und nondual.


Hier noch ein gekürztes Zitat von Graves aus dem wikipedia Artikel:

„Ich sage nicht, dass eine Stufe unter allen Umständen höherrangig oder besser ist als eine andere Seinsstufe.

Was ich sage ist, dass wenn eine Seinsform besser mit den bestehenden Lebensbedingungen übereinstimmt, dann ist sie die bessere Seinsform für solche Realitäten. Wenn eine Seinsform aufhört für die Lebensrealitäten zu funktionieren, dann ist eine andere Seinsform – entweder höher oder tiefer in der Hierarchie – die bessere Seinsform.

Ich schlage vor – und ich glaube fest daran, dass es sich so verhält – dass für das Wohlergehen der gesamten Weltbevölkerung höhere Ebenen besser sind als niedrigere Ebenen und dass die Hauptaufgabe jeder Regierung einer Gesellschaft sein sollte, die Weiterentwicklung der Menschen hinauf zu neuen Ebenen der menschlichen Existenz zu fördern.“

– Clare W. Graves

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