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Lagerdenken : Alle Lager liegen falsch

Dieser Artikel hat mich inspiriert:
https://www.zeit.de/kultur/2022-02/lagerdenken-links-rechts-politik-psychologie


Lagerdenken:Alle Lager liegen falsch

Links gegen rechts, Team Wissenschaft gegen Querdenker, öko gegen sozial: Große Konflikte verlaufen entlang klarer Linien. Höchste Zeit für einen Abschied von der Gruppe!
Lagerdenken: Man muss Linien immer wieder überschreiten, um nicht blind zu werden für gesellschaftliche Zusammenhänge.
Man muss Linien immer wieder überschreiten, um nicht blind zu werden für gesellschaftliche Zusammenhänge. © Orbon Alija/​Getty Images

Alle Lager liegen falsch – Seite 1

Von Anfang an denken und handeln wir in Gruppen. Manche von uns werden in religiöse Gemeinschaften hineingeboren. In Jugendcliquen wollen wir den Freunden aufs Haar gleichen, entwickeln einen einheitlichen Stil, einheitliche Ansichten. Und bis heute sind ideologische Strömungen aus dem achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert die Grundlage unserer politischen Auseinandersetzungen: Als "Linke", "Liberale", "Konservative" schauen wir auf die Welt.

Aber vielleicht kommt für uns alle die Zeit, Abschied von der Gruppe zu nehmen. Der Abschied von den Eltern, wie Peter Weiss ihn in seinem gleichnamigen Buch geschildert hat – als Befreiung, Erkennen von Täuschungen, Überwinden von Hilflosigkeiten, ein sich Behaupten als Ich – ist notwendig, um erwachsen zu werden, mit eigener Stimme zu sprechen. Aber ist der Abschied von der Gruppe nicht noch wichtiger, um unsere geistige Unselbstständigkeit zu überwinden, die Selbstinfantilisierung und Selbstentmündigung, die mit jeder Gruppenidentität verbunden ist?

Lockdown, Impfpflicht, Klimawandel, ökologischer Kollaps: Unsere Debatten um "Freiheit und Verantwortung" gehen in immer neue Runden. Doch anstatt die großen Worte in einem fort als Pfeile gegen andere zu schießen, sollten wir sie einmal zurückbeziehen auf uns selbst: Wie frei bin ich in meinem Denken und Sprechen von meinen Nächsten? Von meinem Milieu, meinem Arbeitgeber, meinen Mitstreitern, meinen Followern? Übernehme ich die Verantwortung, ihnen auch das zu sagen, was sie nicht hören wollen? Mich selbst auch mit dem Wissen zu konfrontieren, das meine Integration in Gruppen gefährdet?

Das erste Axiom politischer Praxis sollte lauten: Jedes Lager liegt in wesentlichen Punkten falsch. Jede Bewegung. Jede Partei. Linke, Liberale, Konservative, Verschwörungsgläubige, bekennende Wissenschaftsfreunde, Aktivisten und politisch Enthaltsame, alle, die denken, wie man eben denkt in einer bestimmten Gruppe, sind, um ein Wort des amerikanischen Komikers Jon Stewart zu gebrauchen, "Bewohner von Bullshit-Mountain".

Wir meinen, rational und souverän zu urteilen, zu den Themen Einwanderung, Abtreibung, Vermögenssteuer, Kohleausstieg und zu hunderten anderen. Und dann stellen wir fest, dass fast alle unserer Urteile wie durch ein Wunder mit den Positionen unserer sozialen Umwelt, unserer ideologischen Gruppe übereinstimmen.

Meist stellen wir die eigene Gruppenzugehörigkeit nicht nur nicht infrage, wir halten sie sogar für das Glanzstück unserer Rationalität. "Weil mein überlegenes Urteilsvermögen mich in all diesen verschiedenen politischen Angelegenheiten zu all diesen Schlüssen hat kommen lassen, bin ich jetzt liberal/ konservativ/ links."

Wenn ich von mir sage: "Ich habe immer recht, ich täusche mich nie, ich verdränge nichts", wird man mich mit Recht für einen Psychopathen oder einen Schwachsinnigen halten. Dennoch ist der gleiche Mangel an Selbstreflexion noch immer selbstverständlich, wenn ich vom politischen Lager spreche, dem ich angehöre: "Meine Gruppe liegt überall richtig." Anstatt davon auszugehen, dass auch die Wortführer meiner Gruppe sich in manchen Fällen irren, von Vorurteilen behaftet sind, von Tabus beschränkt in Wahrnehmung und Denken, dass sie das eine übertreiben und das andere verleugnen, dass auch ihnen Verantwortungslosigkeiten nicht fremd sind.

Zu einem ideologischen Lager Abstand zu gewinnen, mag im Stillen vor sich gehen. Als kaum merkliche intellektuelle Entwicklung. Und es kann heftige Auseinandersetzungen bedeuten. Soziale Entwurzelung, Verlust an Wertschätzung, von Lebenssinn.

Als Jugendlicher wurde ich Teil der "revolutionären Linken" in Deutschland. Ein Jahr vor dem Fall der Mauer, dem vermeintlichen Beginn des postideologischen Zeitalters. Als ich fünf Jahre später aus allen Gruppen austrat, verlor ich etwas, das Familie und Heimat für mich gewesen war, an das ich bis heute glückliche Erinnerungen habe. An Freundschaft, Verbundenheit, gemeinsame Arbeit, gemeinsames Feiern, ein Gefühl ungekannter Intensität, des Lebendigseins.

Ein faszinierendes Paradox: Wie glücklich man sein kann, während man irrt. Wie widersprüchlich und wirklichkeitsfern eine Ideologie auch sein mag, sie ist in der Lage, wirkliche menschliche Bande zu erzeugen, ein sehr wirkliches Glück. In dem Paradox steckt die halbe Menschheitsgeschichte: Aus Religionen sind Lebensformen und Weltreiche entstanden; der Antisemitismus der Nazis – neben vielem anderen auch ein Irrtum, eine Unfähigkeit, das Zutreffende zu erkennen, das Irrige zu falsifizieren – hatte die weitgehende Vernichtung der europäischen Juden zur Folge. Halten viele etwas für wirklich, verändert sich die Wirklichkeit. Glaube versetzt nicht Berge, er erschafft sie.

Gewiss, nicht alles war falsch. Aber genug, um sich von der Gruppe zu verabschieden: Wir traten für absolute Freiheit von Herrschaft ein, ein radikales Verständnis von Demokratie, und verteidigten das Regime in Kuba, arbeiteten mit autoritären Organisationen zusammen, wie der PKK, wie Devrimici Sol, allen möglichen "Marxisten-Leninisten". Warum? Weil sie im Kampf auf der "richtigen Seite" standen, beim revolutionären Widerstand. Und weil es zur geschichtlichen Bürde linken, sozialistischen Denkens seit Marx gehört, dass es abgetrennt ist vom Liberalismus, dem Wissen, dass die Freiheit untergeht, wenn nicht Normen und Institutionen sie bewahren, ihr Form geben. Der Rechtsstaat war "Fassade", das Parlament eine "Schwatzbude", Parteien und Institutionen ein homogenes, feindliches "System". Das galt es "zu zerschlagen". Jede Gewalt, der RAF, der Antifa, war gerechtfertigt; unser Vertrauen, dass ein Umsturz, die Revolution, die größte Freiheit verwirklichen würde, nicht zu neuer – nun tatsächlich totalitärer – Tyrannei führen würde, war grenzenlos.

Im Jahr 1993 erreichte die amerikanische Theorie der "tripple oppression" Deutschland. An sich schien es kein schlechter Gedanke, sexistische Diskriminierung, Rassismus und soziale Ungleichheit aufeinanderzubeziehen. Ihre "Intersektionalität" zu untersuchen. Besser als die Einseitigkeiten marxistischer Klassenanalysen. Doch die Aufteilung in identitäre Kategorien – je mehr Kategorien man zugehörte, je mehr Identitäten der Einzelne auf sich vereinte, desto mehr Unterdrückungspunkte sammelte er gewissermaßen – stellte sich bald als Büchse der Pandora heraus.

Organisationen begannen sich zu spalten. Frauen verließen die "gemischten Zusammenhänge" und zogen sich in "sichere Räume" zurück. (Ich glaube, wir benutzten damals nicht das englische Wort "safe spaces".) Lesbische Frauen spalteten sich von "Heteras" ab. Schwarze lesbische Frauen spalteten sich von weißen lesbischen Frauen ab. Die Intersektionalität schuf neue Hierarchien. Unmöglich, dass ein Mann gegen eine Frau recht haben, dass jemand, der weiß war, gegen jemanden, der nicht weiß war, recht haben könnte. Gefühl übertrumpfte Empirie, Gruppenidentität übertrumpfte Logik, die "Erfahrung" des Unterdrückten überwog jedes Argument. Es gab sogar ein ironisches Bewusstsein: Manche scherzten, um noch Debatten zu gewinnen, müsse man eine "schwarze, behinderte Trikont-Lesbe" sein. (Unglaublich, dass das jetzt fast dreißig Jahre zurückliegt.)

Als ich der radikalen Linken den Rücken kehrte, glaubte ich, dass die Diskurse unserer "autonomen Infoläden" mit dem Abschluss des Jahrtausends verklingen würden. Nie hätte ich gedacht, dass es diese Ideen fünfundzwanzig Jahre später in Kanada und den USA auf die große Bühne der Kolumnen von New York Times und Washington Post, der Kommentare des neuen – streng nach ideologischen Gruppen sortierten – Meinungsfernsehens von CNN, MSNBC und Fox News sowie unzähliger Podcasts und YouTube-Kanäle mit Millionen von Zuschauern schaffen würden. Und von dort schließlich ein zweites Mal nach Europa, jetzt im großen Stil.

Jede Gruppe hadert mit einem anderen Wissen

Es war eine schmerzliche und zugleich absurde Erfahrung, dass manche – im linksradikalen Kontext perfekt angepasste Genossen – mich, den Zweifelnden, Streitenden, sich Lösenden als angepasst bezeichneten. Ich war nicht gerne der "Verräter". Ich hatte mich von Ideen trennen wollen, nicht von Menschen. Die Ideen konnte ich ersetzen, notfalls durch Fragen, die Menschen ersetzte mir niemand. An die Stelle der Gemeinschaft, die ich verlassen hatte, trat keine neue Gemeinschaft.

Mein persönliches Beispiel birgt die Gefahr, den Begriff der Gruppe zu konkret zu verstehen. Als Verbund von Menschen, die Aktionen planen, zusammenwohnen, zusammen durchs Leben gehen, als Subkultur und Bewegung. Aber mir geht es um jede Form gefühlter Zugehörigkeit. Um jede Form politischer Identität. Jemand kann ein Beispiel extremer sozialer Desintegration sein, allein leben, allein arbeiten, keinem Verein und keiner Bewegung zugehören, dennoch mag seine Informationskost sehr einseitig sein. Auch die Vereinzelten suchen – ideell – Anschluss, sobald sie politisch urteilen, sich privat oder in der Öffentlichkeit äußern.

Darum muss der Abschied von der Gruppe, den ich meine, wieder und wieder vollzogen werden. Haben wir uns von der einen Gruppe gelöst, sind wir gleich Teil der nächsten – wie Dave Rubin, der mit anderen Debatteuren des sogenannten Intellectual Dark Web eine Zeit lang klug stereotype Denkweisen, Fehler und blinde Flecken der sogenannten woken Linken offenlegte, um kurz darauf als Propagandist im Lager Donald Trump und Tucker Carlson zu verschwinden.

Während der Pandemie haben wieder einige bekannte Gesichter die Gruppe gewechselt. Sie haben die eine Einseitigkeit gegen die andere getauscht. Als falsch erkannte Übertreibungen und Verleugnungen gegen andere Übertreibungen und Verleugnungen.

Eine mögliche Erklärung dafür, dass sie den gleichen Fehler unter veränderten Vorzeichen wieder machen: audience capture. Die Abhängigkeit vom neuen Publikum, von neuen Followern, Abonnenten und Spendern – in einem Wort, der neuen Gruppe. Diese verlangt, dass nun ihre Ansichten bestätigt werden, ihre thematischen Obsessionen endlos bedient werden, sie verschont bleibt von allem, was nicht dazu passt. Wenige widersetzen sich der audience capture, wie der amerikanische Intellektuelle Sam Harris, der mit seinem Podcast Making Sense Linke und Konservative gleichermaßen plagt. Weiteres Beispiel: Der kanadische Psychologe Jordan B. Peterson ist zwar in der amerikanischen Rechten sehr populär und erweckt zuweilen auch den Eindruck, seiner Gefolgschaft zu folgen, anstatt sie gebührend geistig herauszufordern. Doch schrieb er am 29. Mai 2021 auf Twitter: "The conservatives have to sacrifice Trump and the stolen election narrative."

Jenseits eines politisch untätigen Einzelgängers und eines gruppenkonformen Aktivisten muss es ein Drittes geben. Denn die Demokratie braucht die Gruppe, die Bewegungen, den Aktivismus. Das Wir. Nach Jahrzehnten der Abstinenz habe ich mich der Klima- und Umweltbewegung angeschlossen – einer Bewegung, die nicht eben eine ideologiefreie Zone ist. Entscheidend ist, denke ich, wie man sich zu Gruppen stellt, ob man sie als Vehikel für politisches Engagement nutzt, im Denken jedoch versucht, unabhängig zu bleiben, oder ob man von einer politischen Strömung alle seine Überzeugungen im Paket bezieht.

Jede Gruppe hadert mit einem anderen Wissen. Jede Partei, jede Bewegung, jede Branche, jede Nation und jede Kirche wehrt ein spezifisches Wissen ab. Dieses Wissen können wir ihr "schwieriges Wissen" nennen. Es ist ein Wissen, das Konstruktionen, die für eine Gruppe, eine Institution, ein Land tragende Funktion haben, entscheidend verändern könnte. Es ist ein Wissen, das Menschen nicht anzieht, sondern abstößt, nicht bestätigt, sondern verunsichert. Es löst Angst aus. Es kann alle Bande, die uns mit einer Gemeinschaft verbinden, zerschneiden. Alle Debatten unserer Zeit, ob es um Corona und Impfen geht, um die Klimakrise, die Biodiversitätskrise, um Einwanderung, um politische Korrektheit, um Trans und Terfs, sind davon geprägt (ja kommen in ihrer besonderen Form erst dadurch zustande), dass wir das für uns schwierige Wissen ignorieren.

In seinem Essay Stufen der praktikablen Unwissenheit unterscheidet Manès Sperber zwei Arten, Wissen aus dem Weg zu gehen. Sperber schreibt: "Es genügt, dass wir kein ausdrückliches Interesse haben, etwas zur Kenntnis zu nehmen, zum Beispiel weil es uns nicht unmittelbar angeht oder weil solches Wissen Verpflichtungen mit sich bringen könnte, denen wir uns dank der mühelos aufrechterhaltenen Ignoranz mit gutem Gewissen entziehen können." Wissen setzt also Interesse voraus, aktive Aneignung, weswegen es nicht unbedingt aggressiver Abwehr bedarf und es reichen mag, wenn Menschen einem Wissen gegenüber teilnahmslos bleiben. Eine andere Möglichkeit: Wir halten uns das Wissen mittels Ideologie vom Leib. Wir erklären den Überbringer zum Menschenfeind, zum Betrüger und Propagandisten, begegnen dem Wissen nur in seinen schwächsten, entstellten Formen der sogenannten Strohmann-Argumente.

Sperber nennt einige historische Beispiele für Gruppen, die sich das für sie schwierige Wissen vom Leib gehalten haben. Er schreibt, dass "das deutsche Volk in seiner Mehrheit zu behaupten wagte, von den wohlorganisierten Verbrechen der Nazis schlechthin nichts gewusst zu haben … Man nahm nicht zur Kenntnis, man lebte im Schatten – und nicht im Lichte – des unwillkommenen Wissens." Die Kommunisten, schreibt Sperber, hätten sich geweigert, den Horror des Stalinismus zur Kenntnis zu nehmen, "die Vernichtung von Unschuldigen und die Massendeportationen nicht mehr als sozialistische Grosstaten zu rühmen ... sie wussten ganz genau, was zu wissen sie entschieden ablehnten". Und dann sah Sperber, dass die Jugend erneut begann, "das Wissen zugunsten des Meinens, einer sogenannten Ideologie, radikal abzuwerten und in Universitäten jenen Meinungsterror einzuführen, den vorher nur totalitäre Regime an ihren Lehranstalten praktiziert hatten". Das war 1980 (und bezog sich auf Erfahrungen aus den Siebzigerjahren); aber die Passage klingt heute wieder überraschend aktuell.

Noch immer leben die meisten Menschen "im Schatten des unwillkommenen Wissens". Noch immer entscheidet die Gruppenzugehörigkeit darüber, was wir zur Kenntnis oder nicht zur Kenntnis nehmen. Unter den Menschen, die sich wahrhaftig für die ökologische Krise interessieren, in dieses Wissen "eintauchen" und auf die Zerstörung der Ökosysteme und den Klimawandel auf eine Weise emotional reagieren, die für Handeln unabdingbar ist (wie man auf die Verfolgung der Juden und das Verfolgen der "Häretiker" im Kommunismus hätte reagieren müssen), sind so gut wie keine Konservativen und Liberalen. Auch nur wenige Sozialdemokraten. Und unter den Menschen, die die Probleme nicht kleinreden, die mit der Einwanderung verbunden sind – darunter existenzielle Gefahren für die liberale, säkulare Demokratie –, sind fast keine Linken. Für alle, Konservative, Liberale, Linke, gilt der Sperber-Satz: "Sie wussten ganz genau, was zu wissen sie entschieden ablehnten."

Was Liberale und Linke nicht wissen wollen

Viele Liberale deuten alle Einschränkungen von individuellen Freiheiten, die dazu dienen, Menschen vor Krankheit und Tod, das Gesundheitssystem vor Überlastung oder natürliche Lebensräume vor Zerstörung zu bewahren, als Beginn einer grün-sozialistisch-totalitären Transformation, wollen nicht wissen, welche katastrophalen Folgen ein freier Markt, eine unbeschränkte Freiheit Einzelner häufig haben. Linke ignorieren, dass Menschen mit unverhältnismäßigen, illiberalen Mitteln angegriffen und ihrer beruflichen Existenz beraubt werden, obwohl diese Menschen sich gar nicht in diskriminierender Absicht geäußert haben. Konservative und Liberale ignorieren, dass der Trickle-down-Effekt nicht eintritt, massive Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche nicht dem Gemeinwohl dienen.

Es lässt sich lang so weitermachen: Linke ignorieren die Möglichkeit, dass das Coronavirus aus einem Labor in Wuhan stammen könnte (aus Angst vor rassistischen Angriffen auf Bürger mit asiatischen Wurzeln). Befürworter von Lockdowns wollen von den weltweiten menschlichen Kosten dieser Lockdowns nichts wissen. Menschen, die dem Staat, den Medien und der Pharmaindustrie misstrauen, wollen von den Gefahren des Virus und von den Vorteilen der Impfstoffe nichts wissen. Viele konservative Abtreibungsgegner wollen nicht wissen, welches Leid es bedeuten kann, zum Gebären gezwungen zu werden, Mutter zu sein, obwohl man es weder will noch vermag (und welches Leid es bedeutet, ein unerwünschtes Kind zu sein). Viele linke Abtreibungsbefürworter wollen von der Existenz und dem Recht eines Lebens vor der Geburt nichts wissen. Die meisten Konservativen in den USA wollen nicht wissen, dass ihr Anführer ein Lügner und eine Gefahr für die Demokratie ist. Linke auf der ganzen Welt und auch die meisten Journalisten, Ex-Präsident Barack Obama und viele Prominente, die sich 2020 zur Polizeigewalt in den USA geäußert haben, haben mit keinem Wort jene dazu vorhandenen Studien erwähnt, die darauf hindeuten, dass amerikanische Polizisten – proportional zur Kriminalstatistik – nicht mehr Schwarze als Weiße töten.

Trau niemandem, der nicht auch die eigene Seite kritisiert

Ich behaupte nicht, in allen diesen Fragen die Antworten (oder die politischen Lösungen) zu kennen. Ich beobachte nur, dass die meisten Menschen gar nicht erst gründlich untersuchen, was ihrer Gruppenidentität gefährlich werden könnte. Niemand, so scheint es, soll über sie sagen können, sie gehörten zur anderen Seite, seien keine echten Linken, sondern "rassistisch" oder "rechts", keine echten Konservativen oder Liberalen, sondern "links" oder "grün".

Gestern stieß ich auf einen Artikel von Milena Wazeck über die "Gegner" Albert Einsteins. Wazeck zitiert einen Brief, den Einstein vor ziemlich genau hundert Jahren an seinen Freund Marcel Grossmann schrieb: "Gegenwärtig debattiert jeder Kutscher und jeder Kellner, ob die Relativitätstheorie richtig sei. Die Überzeugung wird hierbei bestimmt durch die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei."

Wäre es nicht an der Zeit, einen Fortschritt zu erzielen? In Der freie Mensch (dem vergriffenen Band, der auch den Essay über die "praktikable Unwissenheit" enthält), schreibt Sperber an einer Stelle: "Frei ist nur, wer psychisch fähig ist, die Verantwortung zu tragen, die er mit seinen Entschlüssen und Taten auf sich nimmt." Ich möchte ergänzen: "Frei ist nur, wer für ihn schwieriges Wissen nicht ausblenden muss, wer sich der wichtigsten Verantwortung stellt, die wir in der Demokratie tragen: die eigene Gruppe zu kritisieren und zu kontrollieren, wo sie ins Unvernünftige und Unverantwortliche abzugleiten droht."

Das zweite Axiom der politischen Praxis sollte lauten: Trau niemandem, der nicht auch die eigene Seite kritisiert. Und damit meine ich nicht Kritik an der fehlenden Konsequenz und Radikalität der eigenen Seite. Ich meine eine Kritik an den spezifischen Überschreitungen und Blindheiten der eigenen Seite, jene Kritik, die gewöhnlich nur von der anderen Seite geäußert wird.

Aller Irrsinn unserer Zeit rührt daher, dass Konservative sich nicht Konservativen in den Weg stellen, Linke nicht Linken, Liberale nicht Liberalen, wo Bedrohungen der Zivilisation nicht zur Kenntnis genommen werden, wo Illiberalismen die Meinungsfreiheit und die Demokratie gefährden, wo man sich für ein Wissen, das einem nicht nutzt, nicht interessiert. In den USA sehen wir im Moment am deutlichsten, was passieren kann, wenn Lager sich nicht selbst regulieren, wenn Bürger nicht die geistige Freiheit und die Selbstständigkeit errungen haben, die es ihnen erlauben, abseits von Gruppen zu denken und zu handeln.

Das deutsche Wort Querdenker bedeutete ursprünglich, in einer Bewegung gegen die Bewegung zu denken und zu sprechen, in einer Gruppe gegen die Gruppe. Es bedeutete nicht, in einer Masse von Gleichgesinnten das Transparent "Denke selbst" hochzuhalten.

Noch einmal, zur Sicherheit: Mit Abschied von der Gruppe meine ich nicht, man solle sich aus der Politik heraushalten. Jedes Wir verteufeln. Ein weiteres faszinierendes Paradox besteht schließlich darin, dass ein Mensch, der sich von Gruppen unabhängig macht, zwar die Wirklichkeit mit der Zeit genauer und nuancierter sehen mag, in politischen Fragen immer mehr die schwierigen moralischen Dilemmata erkennt, mit immer schlagkräftigeren Argumenten Glaubenssysteme und Bewegungen zu kritisieren in der Lage ist – aber immer weniger Gutes tut. So mag es sein, dass der revolutionäre Aktivist, der ich einst gewesen bin, trotz aller ideologischer Irrgänge, mehr für das Gemeinwohl getan hat (indem er zum Beispiel Begegnungen von Jugendlichen mit Auschwitz-Überlebenden organisiert hat, Flüchtlingsheime mit dem Knüppel in der Hand gegen Angreifer verteidigt hat oder in einer "Männergruppe" zum Thema sexuelle Belästigung und sexueller Missbrauch gearbeitet hat) als die spätere Version meiner selbst, die zwar einige Erkenntnisse gewonnen, aber jeden Anschluss an die Politik verloren hat. 

Wir sollten uns also nicht abschrecken lassen von den Unzulänglichkeiten, auf die wir überall in der politischen Sphäre treffen. Außerdem kann man am besten auf Gruppen einwirken, wenn man Teil von ihnen ist: Nur wer in den Strom springt, kann gegen ihn anschwimmen.

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Ende des Artikels
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Ich gehe mal voran und versuche, meine eigenes "schwieriges Wissen", unangenehme Wahrheiten, die ich am liebsten verdrängen würde, zu identifizieren:

Als Humanist glaube ich an die Fähigkeit der Menschen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Unbestreitbar ist, dass wir Menschen die Welt in ungeahntem Maßstab verändern können. Aber wird sie dadurch auch zu einem besseren Ort für Mensch und Umwelt? Ich hoffe es, und es gibt auch ermutigende Entwicklungen. Es gibt aber leider auch gegenteilige Entwicklungen.

Ich glaube an die Zuverlässigkeit von wissenschaftlichem Erkenntnisgewinn. Ich glaube auch, dass Bildung und Wissen wichtig für die persönliche Entwicklung ist. Aber das allein reicht nicht, um ein verantwortungsvoller und reifer Mensch zu werden. Unsere pluralistische Gesellschaft bietet wenig Orientierung und Halt - das, was früher traditionell die Religionen übernommen haben. Hat unsere Gesellschaft hier ein Defizit - weswegen es auch immer schwieriger wird, einen gesellschaftlichen Konsens zu finden? Um das zu überwinden - brauchen wir mehr Wissenschaftsvermittlung in der Öffentlichkeit, oder ist Wissenschaft einfach nicht ausreichend? (Wasser auf die Mühlen der Kommentatoren :-) Wenn Wissenschaft nicht ausreichend ist, und die traditionellen Religionen in ihrer aktuellen Verfassung der Aufgabe nicht gewachsen sind - was dann?

Mir ist bewusst, dass ich meine eigenen Maßstäbe, was umweltfreundliches und klimaverträgliches Leben angeht, nicht konsequent einhalte. Ich könnte jetzt viele Ausreden anführen und mit dem Finger auf andere zeigen, die noch schlimmer sind - aber hilfreicher ist es, mich nicht selber zu verurteilen, sondern versuchen, es besser zu machen, und Mitstreiter zu gewinnen. Denn allein lassen sich diese Krisen nicht bewältigen.

Als Arbeitnehmer mit regelmäßigem Einkommen ist es mir möglich, die nötigen Investitionen für klima- und umweltfreundliches Leben zu tätigen, und umweltfreundlich einzukaufen. Aber viele Menschen haben diesen Luxus nicht. Die Klimafrage und die Soziale Frage sind untrennbar miteinander verbunden. Wer dauernd fürchten muss, in die untere Mittelschicht zu rutschen, oder von der unteren Mittelschicht in die Unterschicht, hat nicht die innere Freiheit, langfristig zu denken und zu planen, und entsprechend einzukaufen.

Im Prinzip bin ich gegen Atomkraft. Aber als Übergangstechnologie hat sie unbestreitbare Vorteile.

Das war jetzt ziemlich anstrengend, und mehr fällt mir auch gerade nicht ein :-)

Kommentare

  1. Danke für das Posten. Klasse Artikel! Mutiger Schluss von Sven Hillenkamp, der sehr selbstkritisch ist.

    "Trau niemandem, der nicht auch die eigene Seite kritisiert. Und damit meine ich nicht Kritik an der fehlenden Konsequenz und Radikalität der eigenen Seite. Ich meine eine Kritik an den spezifischen Überschreitungen und Blindheiten der eigenen Seite, jene Kritik, die gewöhnlich nur von der anderen Seite geäußert wird." - stark!

    Ich habe ein bisschen mehr Begründung für diese Haltung vermisst. Warum wäre das so wichtig? Wird der damit Menschheit mehr geholfen? Ist der Mensch selbst, der so selbstreflektiert lebt, glücklicher? Oder richtet man weniger Schaden an?

    Es besteht auch die Gefahr, dass dieses selbstreflektiert-selbstkritische Denken zu Aporien führt, die einen handlungsunfähig machen, weil die Überzeugungen fehlen oder man Angst bekommt, eine Überzeugung zu vertreten. Das sind Punkte zum Weiterdenken...

    Beste Grüße!

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    1. Ich habe ein bisschen mehr Begründung für diese (selbstkritische) Haltung vermisst. Warum wäre das so wichtig? Wird der damit Menschheit mehr geholfen? Ist der Mensch selbst, der so selbstreflektiert lebt, glücklicher? Oder richtet man weniger Schaden an?

      Sehr gute Frage :-)
      Ich denke, das (unausgesprochene) Ziel ist, einen möglichst realistischen Blick auf die Wirklichkeit zu bekommen. Man kann nicht 100% objektiv sein, aber man kann sich dem so gut wie möglich annähern.

      Und was bringt einem das?
      Je besser man die Wirklichkeit versteht, desto erfolgreicher kann man sie beeinflussen, oder zumindest sich ihr anpassen. Vielleicht ist sogar das Verstehen an sich schon ein Wert.
      Als gesellschaftlich engagierter Mensch will man natürlich der Menschheit helfen. Der Begriff "die Menschheit" nimmt die ganz große Perspektive in den Blick, aber man kann ja schon mal mit dem eigenen kleinen Lebensraum anfangen. Wie der Spruch sagt: Think globally, act locally.

      Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, das so eine selbstkritische Haltung erstmal nicht glücklicher macht. Die Realität ist kompliziert, verunsichert einen, und führt einem die eigene Machtlosigkeit vor Augen.
      Zu Selbstreflektion gehört es, das zu akzeptieren, und trotzdem das Meiste aus seinem Leben zu machen.

      Weniger Schaden ist definitiv ein Ziel... Auch das ist nicht so einfach. Jemand hat mal überspitzt gesagt: Das gefährlichste Tier auf dem Planeten ist eine weiße Frau im fruchtbaren Alter.
      Als Bürger Deutschlands ist mein Lebensstil wesentlich schädlicher, als wenn ich in Afrika geboren wäre. Doch als deutscher Wahlberechtigter habe ich auch wesentlich mehr Möglichkeiten, Dinge tatsächlich zu verändern.
      Es gibt ja die philanthropische Bewegung des "effective giving".
      Oder hast du den "Schaden" mehr auf den zwischenmenschlichen Beziehungsbereich bezogen?


      Es besteht auch die Gefahr, dass dieses selbstreflektiert-selbstkritische Denken zu Aporien führt, die einen handlungsunfähig machen, weil die Überzeugungen fehlen oder man Angst bekommt, eine Überzeugung zu vertreten.


      Ja, da hast du recht. Man kann vor lauter Zweifel auch in Lähmung verfallen. Das thematisiert auch Sven Hillenkamp.
      Die Kunst ist es, auch mit Restunsicherheiten Entscheidungen zu treffen, zu handeln und vorwärts zu gehen.



      P.S. Ich habe festgestellt, dass nicht ganz klar war, wo der Artikel endet, und meine eigenen Gedanken anfangen :-)
      Das habe ich jetzt besser markiert.

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    2. Es ist denke ich auch ein Unterschied, wie man mit eigenen inneren Widersprüchen umgeht, und wie man sie nach außen präsentiert.
      Als Denker und Philosoph kann man wesentlich offener mit den eigenen Denkprozessen und Zweifeln umgehen. Die Philosophie lebt ja geradezu davon, Denkprozesse und Abwägungen öffentlich zu machen.

      Als Manger oder Politiker hat man auch Zweifel, aber man darf sie nicht so sehr öffentlich zeigen, sonst wird einem das gleich von vielen Menschen als Schwäche ausgelegt. Zweifel darf man nur im kleinen inneren Zirkel zeigen.

      Ich persönlich bewerte das anders: Ein Politiker oder Manager, der an seinen eigenen Abwägungsprozessen teilhaben lässt, steigt sofort in meiner Achtung.
      Ich muss aber zugeben, dass das auf die meisten Menschen nicht zutrifft. Die meisten Menschen wollen Eindeutigkeit und Sicherheit.

      Es ist ja geradezu eine Kernkompetenz von Managern und Politikern, auch bei unklaren Sachlagen Entscheidungen zu treffen.
      z.B. die Energiewende: Keiner kann im Detail voraussagen, wie gut das alles funktionieren wird.
      Aber die Alternative, nämlich nichts zu tun, ist noch viel unsicherer und gefährlicher.
      Das Nichtstun hat den vermeintlichen Vorteil, das wir im Bekannten und Vertrauten bleiben. In Wirklichkeit ist es aber so, dass das Bekannte und Vertraute untergehen wird, wenn wir nichts tun.
      Winfried Kretschmann hat es so ähnlich formuliert: Damit alles bleibt, wie es ist, müssen wir alles ändern.
      das ist ein zitat von Tancredi:
      https://michaelrasche.eu/leopard/

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